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30 Jahre Dayton-AbkommenDie letzten Tage des Bosnienkrieges

Unser Korrespondent erinnert sich an Enttäuschungen über die internationale Gemeinschaft – und die Rückkehr des Lebens im belagerten Sarajevo.

Rausgehen oder nicht? Aufnahme vom 12. Mai 1995, an einer gefährlichen Sniper-Kreu- zung in Sarajevo Foto: Enric Marti/picture alliance
Erich Rathfelder

Aus Sarajevo

Erich Rathfelder

Die Menschen atmeten auf. Bis Ende August 1995 hätte sich kaum jemand in Sarajevo nach draußen gewagt – die Gefahr, auf den Straßen der bosnischen Hauptstadt von Scharfschützen oder einer Granate getroffen zu werden, war einfach zu groß gewesen.

Doch nun, Anfang September, kamen blasse Menschen aus den Kellern und Wohnungen. Mehr als drei Jahre der serbischen Belagerung hatten sie überlebt. Erste Informationen über einen Waffenstillstand machten die Runde.

Lebensmittel kamen nach Sarajevo, Strom kam wieder durch notdürftig reparierte Leitungen, auch das Wasser konnte wieder in die Stadt fließen. Es gab endlich wieder den so geliebten Kaffee. Die Kneipen und Cafés eroberten sich an diesen sonnigen Herbsttagen das Zentrum der Stadt. Die Menschen umarmten einander.

Die Freude aber war getrübt. Erst jetzt stellte man fest, welche Nachbarn und Freunde getötet worden waren. Man erinnerte auf öffentlichen Plätzen an sie, an die geschätzt rund 13.000 Kriegstoten allein in Sarajevo, unter ihnen über 1.600 Kinder. Viele machten sich daran, die Leichen aus Parks und Hinterhöfen zu holen und würdevoll auf den Friedhöfen zu bestatten.

Das Dayton-Abkommen

Am 21. 11. 1995 einigten sich in Dayton, US-Bundesstaat Ohio, die kroatischen, serbischen und bosniakischen Parteien des 36 Monate dauernden Bosnienkrieges, am 14. 12. 1995 unterschrieben sie das Abkommen. Aus ihm ging der komplizierte Bundesstaat Bosnien und Herzegowina hervor, bestehend aus der Föderation Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska und der Sonderverwaltungszone Brčko. Der Bundestaat bekam nur wenige Kompetenzen, an seine Spitze wurde ein dreiköpfiges, kroatisch-bosniakisch-serbisches Präsidium gesetzt. Der „Hohe Repräsentant“ der UN sollte eingreifen, wenn Gesetze gegen das Abkommen verstoßen.

Hass verderbe die Seele

An den Häusern tauchten Traueranzeigen auf, bei den Muslimen waren die Fotos traditionell grün umrandet, bei den Christen schwarz und bei den Atheisten blau. Sie sind zu Dokumenten geworden, aus denen tiefer Schmerz spricht und nur selten Hass. „Hass verdirbt die eigene Seele“, sagten viele Opfer der ethnischen Verbrechen damals.

Die Tageszeitung Oslobodjenje, Befreiung, war auch während des Krieges täglich erschienen, doch konnte sie nur schwerlich gedruckt und verteilt werden. Jetzt wurde sie den Verkäufern aus den Händen gerissen. Die einheimische Presse berichtete breit, dass es Gerüchte über eine große Friedenskonferenz gebe.

Aus diplomatischen Kreisen sickerte durch, dass der Belagerungsring um Sarajevo aufgelöst werden sollte. Vom Checkpoint der Armee des multiethnischen Bosnien-Herzegowina, der auf dem Igman, dem mächtigen Berg südwestlich von Sarajevo, lag, konnte man ihn zu diesem Zeitpunkt noch deutlich sehen: den Ring, der Sarajevo, das Jerusalem des Balkans, schon seit mehr als drei Jahren von der Welt abschnitt.

Die Kritik

Dayton habe eine für Korruption anfällige Ethnokratie geschaffen, in der Amtsträger nur die eigene Gruppe bedienten. In der Republika Srpska etwa bis hin zum Separatismus. Außerdem würden andere Gruppen, Juden etwa oder Roma, durch die Dayton-Verfassung benachteiligt. Der Hohe Repräsentant wird von den einen als machtlos und von anderen als fremd-bestimmend kritisiert. Derzeit übt der CSU-Politiker Christian Schmidt das Amt aus. (sah)

Der alte Opel Rekord des taz-Reporters, über den in Cafés gewitzelt wurde, ächzte ob der Steigung und fuhr den Berg in engen Serpentinen hinauf. Fast alle anderen ausländischen Journalistenautos waren gepanzert, aus gutem Grund: Die Strecke war gefährlich, manche Kurve lag noch in der Schusslinie der serbisch-nationalistischen Artillerie und der Scharfschützen.

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Tief sitzende Enttäuschung

Die bosnischen Soldaten hier oben waren zwar informiert darüber, dass die serbische Armee in Kroatien verloren hatte und dass die kroatisch-bosnischen Streitkräfte im Westen des Landes auf dem Vormarsch waren. Doch so recht wollten sie noch nicht glauben, dass der Krieg sich auch um Sarajevo herum wenden sollte.

Zu tief saß die Enttäuschung darüber, dass der Westen und die UN über drei Jahre lang die Angriffe der serbischen Nationalisten unter dem später verurteilten Kriegsverbrecher Ratko Mladić geduldet hatten – und ausgerechnet die Verteidiger Bosnien-Herzegowinas und seiner Hauptstadt mit einem Waffenembargo belegt hatten.

Im Juli hatten die schwer bewaffneten serbischen Angreifer unter den Augen der UN Tausende, zumeist unbewaffnete, Kameraden im ostbosnischen Dorf Srebrenica hingeschlachtet. Und noch am 28. August hatten Granaten einige Dutzend Menschen auf dem Marktplatz Sarajevos zerfetzt.

Doch nun tat sich tatsächlich etwas. Die Regierungen in den USA und in Europa standen unter dem steigendem Druck ihrer Öffentlichkeiten, die jetzt mehrheitlich für die Opfer der ethnischen Säuberungen und Vertreibungen Partei ergriffen.

Endlich greift die Nato ein

Truppen aus den Nato-Ländern übernahmen endlich die Initiative, Nato-Flugzeuge griffen jetzt serbische Stellungen im ganzen Land an. Auch hier oben auf dem Berg Igman waren Nato-Kanonen in Stellung gegangen. Vor den Augen des taz-Reporters beschossen die 120- und 108-Geschütze die serbischen Stellungen in Lukavica. Eine gewaltige Explosion zeigte, dass das dortige Munitionsdepot getroffen worden war.

Der US-Diplomat Richard Holbrooke verhandelte in Belgrad mit den Angreifern und erreichte, dass ab dem 12. Oktober die Waffen schweigen sollten. Am 21. November 1995 einigten sich die „Kriegsparteien“ auf einer Luftwaffenbasis in Dayton, im US-Bundesstaat Ohio, im Wesentlichen darauf, dass das Land entlang der Frontlinien aufgeteilt werden sollte. Die Teilung war damit zementiert – und ist es bis heute.

Obwohl die Serben den Krieg um Sarajevo verloren hatten, waren damals auch auf der serbischen Seite der Stadt viele froh, dass das Töten ein Ende hatte. Für jene im Stadtteil Grbavica allerdings, die vom Zigaretten- und Kaffeeschmuggel profitiert hatten, wurde es schwierig. Sie verschwanden nach und nach. Auch viele serbische Soldaten fürchteten nun Racheakte, denn der Präsident des neuen Landes, Alija Izetbegović, hatte gefordert, alle zu bestrafen, die Sarajevo angegriffen hatten.

Nur wenige Racheakte

Bis heute sind nur sehr wenige Racheakte bekannt. Gerade das zivilisierte Verhalten der bosnischen Muslime, Hauptopfer der extremen Nationalisten, wunderte die wenigen internationalen Journalisten, die während der Kriegsjahre in Sarajevo geblieben waren.

Schon mit dem Waffenstillstand hatten Tausende von serbisch-bosnischen Männern begonnen, sich nach Serbien abzusetzen. Als dann nach dem Abkommen von Dayton Nato-Truppen ganz Bosnien besetzten und die Armeen entwaffneten, zogen ihre Frauen und Kinder nach. Sie gaben ihren Besitz in den Vororten Sarajevos auf und kletterten auf Leiterwagen. „Wir können nicht mehr mit den Muslimen zusammenleben“, erklärte damals der Serbenführer und später verurteilte Kriegsverbrecher Radovan Karadžić.

Wie auch sein Militärkommandeur Ratko Mladić weigerte sich Karadžić, das Abkommen von Dayton anzuerkennen. Die serbisch-nationalistischen Politiker, Soldaten und Polizisten fürchteten den langen Arm des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag. Reue und Einsicht zeigte kaum einer von ihnen.

Doch auch jene gingen, die für ein multiethnisches Sarajevo und Bosnien-Herzegowina gekämpft hatten. So einer war Neven. Der damals 23-Jährige hatte wie Tausende anderer Serben ab 1992 „unsere Stadt“ verteidigt, als einer der berühmten Anti-Sniper-Sniper, die serbische Scharfschützen ausgeschaltet hatten. Nach dem Waffenstillstand aber wollte er weg, serbische Extremisten und Geheimdienstler hatten ihn im Visier. Und auch nationalistische Muslime, die seine Rolle im Krieg nicht begriffen, waren eine Gefahr.

Wie Neven saß auch General Jovan Divjak zwischen den Stühlen, seit 1992 Vizekommandeur der bosnischen Armee und führender Verteidiger von Sarajevo. Muslimische Nationalisten versuchten, den Serben kaltzustellen. Doch Divjak blieb populär. Wer mit ihm durch Sarajevo schlenderte, erlebte, wie er Hunderte Hände schütteln musste. Von Großmüttern, jungen Leuten, früheren Soldaten.

2021 ist er gestorben. Als eine der letzten Ikonen des multiethnischen und multireligiösen Bosnien und Herzegowina.

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