Proteste in Israel: „Schick die Regierung des Massakers nach Hause“
Noch immer verhindert Premier Netanjahu eine unabhängige Untersuchung des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023. Dagegen gehen Tausende auf die Straßen.
Tausende haben sich am Samstagabend auf dem Platz vor Israels Nationaltheater Habima in Tel Aviv versammelt. Sie tragen Schilder und T-Shirts mit Sprüchen wie „Schick die Regierung des Massakers nach Hause“, oder „Warum haben wir die Leben der Geiseln riskiert?“ Währenddessen ertönen von der Bühne ein ums andere Mal Rufe nach einer staatlichen Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des 7. Oktober.
Es ist die zweite Woche in Folge, dass die Menschen für eine solche Kommission auf die Straße gehen. Aufgerufen hat das „October Council“, ein Zusammenschluss von Menschen, deren Angehörige am 7. Oktober verwundet oder ermordet wurden. Sie fordern nun Aufklärung – und fühlen sich von der Regierung verraten.
In der Menge liegt ein weißes Bettlaken auf dem Boden. Rote Farbe ergießt sich darauf wie eine riesige Blutlache. Auf einer Trittleiter steht ein Mann mit einer zerfetzten Israelfahne in der Hand. Er trägt eine Maske mit dem Gesicht des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, dazu eine extra lange Nase. „Nur einen Schritt von der Vertuschung entfernt“, steht auf einem Schild um seinen Hals.
Die Fragen, die im Raum stehen, sind groß: Wie konnte Israel vom Angriff der Hamas derart überrascht werden? Wie konnten die Terroristen stundenlang in den Kibbutzim morden, ohne dass Polizei und Militär sie aufhielten? „Wir haben ein Recht darauf, es zu wissen, wir verdienen Gerechtigkeit, und wir verdienen ein Land, das nie wieder unsere Kinder und unsere Enkelkinder im Stich lässt“, ruft Rafi Ben Shitrit, einer der Gründer des „October Council“. Und Noam Perry, deren Vater Haim Perry erst als Geisel nach Gaza verschleppt und dann dort ermordet wurde, sagt: „Der Staat Israel hat den Tunnel gebaut, in dem mein Vater getötet wurde“.
Adi Zakuto, Tochter von Avi Zakuto
Israels Regierung verhindert eine unabhängige Aufklärung
Die israelische Regierung aber hat offenbar wenig Interesse an einer unabhängigen Aufklärung. Nach monatelangen Verzögerungen hatte sie vorige Woche stattdessen angekündigt, eine eigene Untersuchung einzuleiten. Deren Mandat und Arbeitsauftrag wiederum soll von einer Gruppe israelischer Minister festgelegt werden – unter ihnen die rechtsextremen Politiker Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir sowie weitere extrem rechte Minister.
Inzwischen hat sogar Israels Oberstes Gericht eine einstweilige Verfügung gegen die Regierung erlassen: Das Gericht verlangt bis zum 4. Januar eine Begründung, warum die Regierung keine Kommission einrichtet, die die Ereignisse rund um die Massaker der Hamas am 7. Oktober „unabhängig, professionell und unparteiisch untersuchen“ könnte.
„Mein Vater wurde wegen eines Debakels ermordet. Es gibt Menschen, die für dieses Debakel verantwortlich sind“, sagt am Samstagabend auf der Demonstration Adi Zakuto ins Mikrofon. Ihr Vater Avi wurde am 7. Oktober in der südisraelischen Stadt Ofakim ermordet. „Wer auch immer an diesem Scheitern beteiligt war, kann nicht die Regeln für die Ermittlungen festlegen.“
Netanjahu setzte seinen „Krieg gegen die betroffenen Familien und die Bürger des Staates Israel fort“, sagt auch Eyal Eshel. Seine Tochter Roni war am 7. Oktober als Observierungssoldatin im Außenposten Nahal Oz getötet worden. „Wir erkennen kein Ministerkomitee an, dessen Mitglieder unter den ersten sein sollten, die von einer staatlichen Untersuchungskommission untersucht werden.“
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Im kommenden Jahr wird in Israel gewählt
In Israel stehen im kommenden Jahr Wahlen an. Das Ziel des „October Committee“ ist es, möglichst viele Oppositionsparteien hinter seiner Forderung zu vereinen. Und so wird in der Menge gejubelt, als die Organisatoren eingangs verkünden, welche Politiker an diesem Tag alle unter dem Demonstrierenden sind: Etwa der ehemalige Minister und Kurzzeit-Ministerpräsident Naftali Bennett von der nationalkonservativen HaJamin HeChadash (Die Neue Rechte). Er gilt in den nächstes Jahr anstehenden Wahlen als aussichtsreichster Herausforderer Netanjahus. Ebenfalls anwesend waren unter anderem die Oppositionspolitiker Benny Gantz, Yair Lapid, Gadi Eisenkot, Yair Golan und Gilad Kariv.
„Ich fordere die Führer der Oppositionsparteien auf, sich offiziell zu verpflichten, nach der Wahl keiner Regierung beizutreten, die nicht verspricht, unmittelbar nach ihrem Amtsantritt eine staatliche Untersuchungskommission einzurichten“, sagte Izhar Shay, ehemaliger Minister von Gantz' Partei Lavan-Kachol. Die Demonstration in Tel Aviv ist sicher die größte, aber lange nicht die einzige, die an diesem Abend Forderungen an die Regierung stellt. Auch in Haifa im Norden, Beer Sheva im Süden und in zahlreichen kleineren Gemeinden und an Straßenkreuzungen protestieren die Menschen.
Immer wieder sagen die Redner*innen in Tel Aviv auch die Namen der drei Geiseln, deren Körper noch immer in Gaza sind: die beiden Israelis Ran Gvili und Dror Or, sowie Sudthisak Rinthalak, ein thailändischer Staatsbürger, der als Farmarbeiter im Kibbutz Beeri beschäftigt war. Nur einen Kilometer entfernt demonstrieren gleichzeitig auch Menschen auf dem „Platz der Geiseln“ für ihre Rückkehr.
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