Dekolonisierung botanischer Gärten: „Wir haben hier Pflanzen von überall auf der Welt“
Botanische Gärten sind Anlagen aus dem Geist des Kolonialismus: In Deutschland fällt es ihnen schwerer als der Kunst, ihre Geschichte aufzuarbeiten.
Botanische Gärten werden oft als Orte der Schönheit wahrgenommen. Dabei trugen ihre Pflanzensammlungen auch dazu bei, kolonialen Reichtum zu repräsentieren. Und sie dienten lange als Forschungseinrichtungen zur Landwirtschaft in kolonisierten Gebieten. Damit sind wiederum die Zerstörung von Lebensräumen und Arbeit unter Zwang bis hin zu Sklaverei verbunden. Während diese Verhältnisse in den Künsten heute reflektiert werden, lässt sich in den Botanischen Gärten Deutschlands nur wenig darüber erfahren. Ein Gespräch über Versäumnisse und Potenziale von botanischen Gärten mit Michael Burkart, Kustos des Botanischen Gartens Potsdam, Andrea Goetzke, Kuratorin, und Vanessa Amoah Opoku, Bildende Künstlerin.
taz: Frau Amoah Opoku, Herr Burkart, Frau Goetzke, erinnern Sie sich, wie Sie zum ersten Mal bewusst auf den Zusammenhang zwischen Botanik beziehungsweise botanischen Gärten und Kolonialgeschichte aufmerksam wurden?
Andrea Goetzke: Vor meiner Laufbahn als künstlerische Kuratorin habe ich Biologie mit den Schwerpunkten Botanik und Biodiversität studiert. Damals war ich wahnsinnig begeistert vom Botanischen Garten in Bonn. Die Frage, wie die Pflanzen dort eigentlich hinkamen, hat jedoch keine Rolle gespielt. Auch im Studium kam Kolonialgeschichte nicht vor. Erst viel später, nachdem ich mich als Kulturschaffende viel mit Kolonialismus beschäftigt hatte, habe ich angefangen, mich auch mit der Geschichte von botanischen Gärten zu beschäftigen. Mich interessiert besonders, wie ein verantwortungsvoller Umgang aussehen kann mit der Ambivalenz zwischen der Schönheit botanischer Gärten und deren Verstrickung in koloniale Gewaltgeschichte.
Vanessa Amoah Opoku: Auch während meiner Kindheit waren botanische Gärten Orte, die man in erster Linie wegen ihrer Schönheit besuchte. Mein Großvater war Kakaobauer. Mein Vater konnte, aufgrund eines Stipendiums, in Ungarn studieren und kam danach nach Deutschland. Eine Reise zum Land seiner Herkunft, nach Ghana, konnten wir uns jedoch als Familie nicht leisten. So war der Botanische Garten der einzige Ort, an dem ich als Kind eine Kakaopflanze gesehen habe. Wie sie dahin kam, habe ich mich erst später gefragt.
Michael Burkart: Auch ich, als Biologe, bin auf das Thema Kolonialismus und botanische Gärten erstmal nicht gestoßen. Allerdings war mir das koloniale Gewaltverhältnis bewusst. Als ich vor 23 Jahren im Botanischen Garten in Potsdam meine Stelle antrat, wurde mir nach und nach klar, dass es in dieser Beziehung ziemlich viel zu tun gibt. Wenn man Potsdam mit Berlin vergleicht, denkt man vielleicht, unser Garten sei klein. Das ist aber nicht der Fall. Die Flora von Deutschland weist etwa 2.000 Arten auf, der Potsdamer Botanische Garten 8.500, wovon die Hälfte tropische Pflanzen sind. Um diese galt es sich zu kümmern. Bei meinen Reisen in afrikanische Länder war das Thema Kolonialismus dann natürlich auf Schritt und Tritt präsent.
Amoah Opoku: 2022 habe ich in Palermo ausgestellt, wo es auch einen Botanischen Garten gibt. Was mir dort ins Auge sprang, waren die Instruktionen, mit denen die Besucher:innen am Eingang des Tropenhauses begrüßt wurden. Dort stand überall, dass es verboten sei, pflanzliches Material mitzunehmen. Das rief in mir die Frage auf: Wer ist eigentlich autorisiert, wo was mitzunehmen? Haben sich die Botaniker, die aus der ganzen Welt Pflanzen mit nach Europa nahmen, diese Frage jemals gestellt? Warum wird nicht darauf hingewiesen, woher und wie und warum die einzelnen tropischen Pflanzen in diese Sammlung kamen?
Burkart: Ein markanter Punkt in Bezug auf die sogenannte Praxis des „Pflanzenjagens“ war die Konferenz von Rio von 1992, bei der die Länder des Globalen Südens geltend gemacht haben, dass man nicht mehr einfach so Pflanzenmaterial von ihren Territorien mitnehmen kann. Seither gibt es Gesetze, die das Sammeln extrem kompliziert machen. Das Ziel war eigentlich, dass ein Teil des Profits, der aus der Erforschung von Pflanzenmaterial und dem späteren Einsatz, zum Beispiel in pharmazeutischen Produkten, zurückfließt in die Herkunftsländer. Was jedoch, soweit mir bekannt, seitdem kaum passiert ist.
Vanessa Amoah Opoku ist interdisziplinäre Künstlerin in Berlin, die sich mit Technologien der Diaspora beschäftigt und dabei immersive Installationen schafft. Sie studierte Buchkunst und Grafikdesign, Kunst und digitale Medien sowie Fotografie und Bewegtbild in Leipzig, Wien und Jerusalem. Ihre Arbeiten sind bis 25. Januar 2026 im Berliner Bärenzwinger und bis 12. April 2026 auf der 18. International Triennial of Textile in Łódź, Polen ausgestellt.
Michael Burkart ist Botaniker. Er wurde 1998 an der Universität Potsdam promoviert. Burkart ist am Institut für Biochemie und Biologie der Universität Potsdam tätig und ist Kustos des Botanischen Gartens. Burkart verantwortete auch die dortige Dauerausstellung „Koloniale Kontinuitäten“
Andrea Goetzke studierte Biologie und arbeitet als Kuratorin in Berlin. Sie entwickelt Ausstellungen und Veranstaltungen an der Schnittstelle von Sound, Bildender Kunst und Diskurs. Für diesen Herbst co-kuratierte sie die Veranstaltungsreihe „Plant Stories“ im Zentrum Kunst und Urbanistik – ZK/U Berlin über die Beziehung zwischen Pflanzen und Menschen.
taz: Herr Burkart, Sie haben zusammen mit Kolleg:innen aus Berlin, Kassel, Frankfurt, Tübingen und Zürich ein Positionspapier zur Kolonialgeschichte geschrieben, das 2023 als Statement des Verbands der Botanischen Gärten veröffentlicht wurde. Wie kam es dazu?
Burkart: Botanische Gärten sind Museen, wenn auch lebende Museen. Als es in den ethnologischen Museen losging mit dem Bewusstsein für die Geschichte ihrer Artefakte, da dachten wir: Eigentlich haben wir ein ähnliches Problem – aber bevor es zur Hintertür hereinkommt, sollten wir lieber proaktiv etwas unternehmen.
Passiert ist aber bislang wenig – obwohl der Botanische Garten Potsdam mit der Ausstellung „Koloniale Kontinuitäten“ einen klaren Impuls gesetzt hat.
Burkart: In Potsdam kam es zu einer glücklichen Fügung. Die Studentin Alexandra Straka hatte sich in ihrer Masterarbeit mit einem Konzept zur Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit am Beispiel des Botanischen Gartens Potsdam befasst. Mit meiner Unterstützung kam die Dauerausstellung „Koloniale Kontinuitäten“ zustande. Wir haben jedoch auch ein Geldproblem. Wir müssen die Mittel, die wir zum Beispiel in die Provenienzforschung stecken möchten, sozusagen aus der Portokasse nehmen, und damit kommen wir natürlich nicht weit. Finanzierungen zu finden, ist ein schwieriges Unterfangen. Was mich aber nicht davon abhält, es zu versuchen.
taz: Es scheint auch, dass die Auseinandersetzung in Bezug auf koloniale Verstrickungen der Botanik in Deutschland gesellschaftlich wenig eingefordert wird.
Goetzke: Eine Rolle spielt vielleicht, dass das Leben mit tropischen Pflanzen komplett normalisiert ist, wie der Gummibaum als Zimmerpflanze. Oder die Kartoffel als Symbol der Deutschen schlechthin. Dass viele der Kulturen in Lateinamerika, die den Kartoffelanbau vor Tausenden von Jahren entwickelt haben, die Kolonialzeit nicht überlebt haben, ist dagegen viel weniger präsent.
Amoah Opoku: Ich stimme der Einschätzung zu, dass eine „exotische“ Pflanzenumgebung etwas ist, was als „normal“ gilt. Es gibt unzählige Beispiele – einerseits, was Schmuckpflanzen betrifft, anderseits in Form von Produkten. Denken wir an die Schweiz, die sich als Schokoladenland feiert, obwohl Kakao natürlich ein koloniales, beziehungsweise ein neokoloniales Produkt ist.
Michael Burkart, Botanische Gärten Potsdam
Goetzke: Der Film „Schauhaus“ der Künstler:innen Max Hilsamer und Anna Lauenstein geht vom Gründungsmotto des Botanischen Gartens in Berlin [im Jahr 1889, Anm. d. Red.] aus. Das lautete: „Die ganze Welt in einem Garten“. Das lässt assoziieren, dass man selbstverständlich Zugang hat zu allem – eine sehr koloniale Sichtweise. Wir haben hier Pflanzen von überall auf der Welt, während die Menschen, die aus denselben Herkunftsländern stammen, aufgrund von Visa-Bestimmung gar nicht zu uns kommen können und die Pflanzen aus ihren Lebensumgebungen besuchen. Meine Frage als Reaktion auf dieses Ungleichgewicht wäre: Wie kann man die vielfältigen Wissensbeziehungen, die Menschen zu Pflanzen weltweit pflegen, durch deren Mitarbeit einbeziehen, und Machtgefälle im Wissenschaftsbetrieb international abbauen? Ziel wäre, die „Welt als Garten“ eben nicht nur aus europäischer Sicht zu präsentieren.
taz: Welches Potenzial hat eine engere Zusammenarbeit zwischen Kultur und Wissenschaft in Bezug auf die Aufgabe von botanischen Gärten?
Goetze: In der Veranstaltungsreihe „Plant Stories“ am Berliner Zentrum für Kunst und Urbanistik habe ich kürzlich zeitgleich mit Vanessas Installation „Thresholds of Engineered Life“ Matthiew Gandys Film „Natura Urbana – Die Brachen von Berlin“ gezeigt. In dem Film geht es darum, wie international die Pflanzenansiedlung in den nicht-reglementierten Brachen ist. In der Installation dagegen um Tropenhäuser, also höchst kontrollierte Räume, in denen die Wachstumsbedingungen nicht-einheimischer Pflanzen simuliert werden. Bei dieser Gegenüberstellung fällt der unterschiedliche Blick auf Pflanzen auf: Solche, die sich auf nicht-kontrollierte Art ausbreiten, werden oft sogar negativ betrachtet, während andere, die hierhin „entführt“ wurden, als begehrenswert gelten. Hier spiegeln sich zugrundeliegende Denkmuster in Bezug auf Ordnung und Kontrolle versus Wildnis und dem „Anderen“. Ich denke, schon allein diese Beispiele zeigen, wie sich Künste und Wissenschaften ergänzen können, um sowohl das Verständnis von Pflanzen als auch von uns selbst zu vertiefen.
Amoah Opoku: Unsere menschlichen Gesellschaften sind komplett abhängig von Pflanzen, und der Umgang mit ihnen, und wie wir über sie sprechen, spiegelt so viel unserer gesellschaftlichen Verhältnisse und Wertevorstellungen. Allein zum Beispiel die Frage, was Unkraut ist und was nicht. Oder die Vorstellung von „künstlich“ und „natürlich“. Wo ist die Grenze, gibt es sie überhaupt, und wenn ja, was wollen wir damit ausdrücken? Für all solche Fragen wäre es wunderbar, zwischen botanischen Wissenschaften und Kunst zu kooperieren. Und welcher Ort würde sich besser eignen als ein botanischer Garten?
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