Geschichten aus Peking von Hu Anyan: Worauf unser Reichtum basiert
Schreiben als Selbstverwirklichung: Hu Anyan richtet mit „Ich fahr Pakete aus in Peking“ den Blick auf die namenlose Masse an Niedriglohnarbeiter:innen in China.
Ein Titel wie von einem Kinderbuch: „Ich fahr Pakete aus in Peking“. Als werde hier Kindern die Würde einfacher Arbeit für die Bildung einer sozialistischen Persönlichkeit nahegebracht. Und in der Tat schimmert immer wieder das maoistische Erbe in Hu Anyans Buch durch. Da muss der Paketdienstmitarbeiter, dessen Kunde sich über ihn beschwert hat, drei Tage lang von Depot zu Depot ziehen und vor versammelter Mannschaft einen Text mit Selbstkritik vortragen.
Oder der Autor wagt es nicht, sich in einem Park in ein Teehaus zu setzten, das von lauter „alten Herrschaften“ frequentiert wird. „Leute in meinem Alter sollten unermüdlich damit beschäftigt sein, die Gesellschaft voranzubringen.“
1979 in Guangzhou geboren, begann Hu Anyan gleich nach der Schule zu arbeiten. Während der Covid-Pandemie postete er im Internet erste Texte über seine Arbeitserfahrungen, aus denen „Ich fahr Pakete aus in Peking“ hervorging. Inzwischen hat sich das Buch in China millionenfach verkauft und wird in fünfzehn Sprachen übersetzt.
Anyan beginnt mit einem Bericht über seine Arbeit in einem Logistikzentrum in Foshan. Sieben Monate war er dort als Ladungskontrolleur angestellt, ausschließlich in der Nachtschicht von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens, bei zwei freien Tagen im Monat. Das Hauptproblem, schreibt er, sei aber nicht die lange Arbeitszeit gewesen, sondern tagsüber zu schlafen. Nach verschiedenen Versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen, greift er zum „altbewährten Mittel“: Alkohol.
Hu Anyan: „Ich fahr Pakete aus in Peking“. Aus dem Chinesischen von Monika Li. Suhrkamp Nova, Berlin 2025. 295 Seiten, 23 Euro
Kämpfe um die besten Touren
In der titelgebenden Geschichte als Paketbote in Peking beginnen die Schwierigkeiten gleich zu Anfang, als Anyan nur ein altes elektrisches Transportdreirad zur Verfügung gestellt bekommt. Es lässt sich schlechter beladen und kostet ihn Zeit, die ihm nicht bezahlt wird.
Die Kämpfe um die besten Touren, bei denen mit wenig Aufwand möglichst viele Pakete verteilt werden können, gewinnen meist die alten Hasen. Und immer wieder gibt es Kunden, die sich einfach nicht vorstellen können, dass ein höherer Zeitaufwand für einen Boten sofort zu einem geringeren Einkommen führt.
Doch Jammern liegt Hu Anyan fern. Der Grund dafür sei sein Charakter, schreibt er, aber wohl auch seine spätere Erfahrung als Kleinunternehmer, der den gnadenlosen Konkurrenzkampf unter den Bekleidungsgeschäften in einem Shoppingcenter erlebt hat. „Aber glücklicherweise existieren auf dieser Welt Werte, die die utilitaristischen Regeln von Gewinn und Verlust, denen wir schon so lange Glauben schenken, transzendieren.“ Hinzu kommt, dass sich die Arbeitsbedingungen in China in den letzten zwanzig Jahren in vielen Firmen verbessert hätten.
„Ich fahr Pakete aus in Peking“ ist neben dem Einblick in die brutale chinesische Arbeitswelt, auf der ein großer Teil unseres Reichtums in Europa basiert, ein Entwicklungsroman. Hu Anyan liest viel – vor allem Schriftsteller aus dem Westen – und denkt über sein Schreiben nach. Manche, wie Raymond Carver, die ihn am Anfang begeistert haben, genügen ihm später nicht mehr. Er beginnt Autoren der klassischen Moderne zu lesen, Musil, Joyce und Kafka.
Für sein eigenes Schreiben übernimmt er von Hemingway die Theorie des Eisbergs, wonach in einem literarischen Text nur ein Achtel erzählt werden sollte, während sieben Achtel unsichtbar unter Wasser, also unerzählt blieben. Die so entstehenden Leerstellen bildeten Freiräume für die Fantasie des Lesers – eine Technik, die Hu Anyan in seinem eigenen Buch gekonnt anwendet.
Schreiben ist Freiheit
Schreiben, das ist für Anyan Selbstverwirklichung, ist Freiheit. Wobei Freiheit für ihn eher eine Frage des Bewusstseins ist, nicht etwas, das man besitzt. „Ein Bauer mit einem niedrigen Bildungsniveau wird sich kaum unfrei fühlen, obwohl der landwirtschaftliche Kalender den Rhythmus seines Jahres vorgibt, aber je gebildeter ein Mensch ist, desto komplexer ist sein Denken und desto schwieriger wird es ihm fallen, sich in seiner Arbeit frei zu fühlen.“
„Ich fahr Pakete aus in Peking“ ist beides: Erzählung menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen und Geschichte einer intellektuellen Emanzipation. Hu Anyans erzähltes Ich ist dabei eine Mischung aus dem charakterlosen chinesischen Menschen, wie ihn Franz Rosenzweig in seinem Buch „Stern der Erlösung“ klassisch von Konfuzius verkörpert sah, der „über alle mögliche Besonderheit des Charakters“ hinwegwischt, und dem westlichen Individuum, das sich im Lesen und Schreiben selbst verwirklicht. Es ist nicht zuletzt die Spannung zwischen diesen beiden Polen, die „Ich fahr Pakete aus in Peking“ so interessant macht.
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