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Krieg in der UkraineMit der Matratze im Untergrund

Jeden Abend schlagen viele Menschen in Kyjiw ihr Nachtlager in einer U-Bahn-Station auf. Die Angst vor Luftangriffen ist allgegenwärtig.

In einer U-Bahn-Station in Kyjiw am 19. November Foto: Alina Smutko/reuters
Bernhard Clasen

Aus Kyjiw

Bernhard Clasen

Es ist die letzte U-Bahn, die am Dienstagabend gegen 23 Uhr in die Kyjiwer Metro-Station „Polytechnisches Institut“ einfährt. Wer jetzt hastig und schnellen Schritts nach Hause will, sollte gut aufpassen, dass er nicht über eine der vielen Matratzen stolpert, die hier überall liegen.

Zu dieser späten Stunde ist Leben in die U-Bahn-Station gekommen. Auf den weit über hundert Matratzen sitzen oder liegen Menschen. Die einen schlafen, andere haben ihr Nachttischlämpchen mitgebracht, lesen ein Buch oder verfolgen auf ihrem Smartphone die neuesten Nachrichten auf Telegram.

Irgendwo bellt ein Hund, zwei Kinder sitzen nebeneinander vor einer Matratze, auf der eine Frau, offensichtlich ihre Mutter, schläft. „Das ist jeden Abend so“, erklärt Svitlana ihrem Begleiter. Viele Menschen würden praktisch jede Nacht in der U-Bahn-Station ausharren, aus Angst vor Luftangriffen.

Einerseits hätten sie natürlich recht, meint sie. „Wenn mal die Sirenen angefangen haben zu heulen, sollte man besser nicht mehr auf die Straße gehen.“ Sie jedenfalls gehe dann nicht mehr raus. „Die 15 Minuten bis zur U-Bahn sind die gefährlichsten“. Da bleibe sie lieber zu Hause, schlafe im Gang oder auch im Bad.

In der U-Bahn bleiben oder nicht

Sie nächtige nur in der U-Bahn, wenn die Wahrscheinlichkeit groß sei, dass es wieder einmal laut werde in der Nacht. „Und wann ist die Wahrscheinlichkeit groß?“, will ihr Begleiter wissen. „Sagen wir mal so“, antwortet sie, „ruhig ist es immer dann, wenn es in der Nacht zuvor Explosionen gegeben hat.“ Es komme selten vor, dass Kyjiw zwei Nächte hintereinander von Drohnen angegriffen werde. Ruhig bleibe es auch, wenn ausländische Delegationen in der Stadt seien.

Wenn ukrainische Drohnen hingegen Russland angegriffen hätten, könne man davon ausgehen, dass es bereits in der nächsten Nacht zu russischen Luftangriffen komme. „Irgendwie bin ich mir sicher, dass heute Nacht nichts passiert“, sagt sie und verlässt die U-Bahn Richtung Dunkelheit. Ihre Taschenlampe hat sie natürlich in dieser stockfinsteren Nacht dabei.

Dieses Mal behält Svitlana nicht recht. In der Nacht zum Dienstag wird die ukrainische Hauptstadt erneut von russischen Drohnen angegriffen. In mehreren Stadtteilen sind Explosionen zu hören. Bislang sind sechs Tote zu beklagen, 13 Menschen werden verletzt. Gegen 2:10 Uhr berichtet Bürgermeister Vitali Klitschko, dass Trümmerteile im Stadtteil Petschersk ein 22-stöckiges Wohnhaus getroffen hätten. Im 4. und im 7. Stock habe es Zerstörungen gegeben und ein Brand sei ausgebrochen. Einige Bewohner hätten evakuiert werden müssen.

Auch im Dniprowskyj-Bezirk brennt es in einem neunstöckigen Wohnhaus. Ersten Berichten zufolge werden vier Personen verletzt. In mehreren Stadtteilen kommt es infolge der Angriffe zu Unterbrechungen der Strom- und Wasserversorgung. Um 03:20 Uhr geben die Behörden Entwarnung und heben den Luftalarm für Kyjiw auf.

Tödliche Splitterverletzungen

Auch im russischen Grenzgebiet zur Ukraine, im Gebiet Belgorod, werden Drohnenangriffe registriert. Dies berichtet der Gouverneur des Gebietes, Wjatscheslaw Gladkow, auf seinem Telegram-Kanal. So sei im Repjachowka im Bezirk Krasnojaruski ein PKW von einer FPV-Drohne getroffen worden. Eine Frau habe zahlreiche Splitterverletzungen erlitten und sei wenig später im Krankenhaus verstorben. Ein Mitfahrer sei verletzt worden.

Auch in der russischen Stadt Taganrog in der Region Rostow kommt es in der Nacht zum 25. November zu einer Serie heftiger Explosionen. Dies berichtet das ukrainische Portal New Voice unter Berufung auf den Telegram-Kanal der Bürgermeisterin von Taganrog. Drei Menschen werden getötet. Bewohner sprechen von mehr als 20 Detonationen. Die Druckwellen sollen Fenster in Wohnhäusern zum Vibrieren gebracht haben, zudem seien in vielen geparkten Autos die Alarmanlagen losgegangen.

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14 Kommentare

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  • Ich schätze die Berichte von Herr Clasen immer sehr. Sie beschreiben nüchtern und sachlich die Umstände in der Ukraine. Auch scheut er sich nicht unangenehme Themen anzusprechen. Apropos unangenehme Themen: die militärische Lage muss leider sehr kritisch sein, wenn Selenski inzwischen sogar die Europäer um Gedankenspiele zu Soldaten bittet:



    "deren Abschrift der Nachrichtenagentur Reuters vorliegt, fordert Selenskyj die europäischen Staats- und Regierungschefs auf, einen Rahmen für den Einsatz einer „Verstärkungstruppe“ in der Ukraine auszuarbeiten und das Land so lange zu unterstützen, solange Russland keine Bereitschaft zeige, den Krieg zu beenden. (Reuters)"

    www.tagesspiegel.d...ohnen-4309180.html

    Rhetorisch sind ja viele von uns schon lange "all in" gegangen. Gibt es auch jemanden der bereit ist der Rhetorik Taten folgen zu lassen? Die internationale Legion der Ukraine sucht händeringend Personal.

  • Ich fürchte, Putin wird das Abkommen nicht unterschreiben. Danach wird sich Trump wohl die Ukraine fallen lassen und das Ende vom Lied ist, dass nicht nur die Ukraine einen Verbündeten verloren hat - noch dazu den wichtigsten -, sondern auch Europa. Das sind düstere Aussichten!

    • @Il_Leopardo:

      Trumps Abkommen hätte er vielleicht unterschrieben. Das er die "europäischen" Änderungen unterschreibt, halte ich für sehr unwahrscheinlich.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Er hätte sich aber halt nicht daran gehalten. Allein schon weil er in die russische Verfassung schreiben ließ das Cherson und Zaporizhzhia zu Russland gehören.

        • @Machiavelli:

          Putin ändert die Verfassung nach belieben.

          Natürlich gibt es keine Garantie, dass sich Putin an ein Abkommen hält. Es gibt auch keine Garantie, dass sich die Ukraine und ihre Unterstützer an ein Abkommen halten. So gesehen sollte man künftig mit niemanden mehr Verträge schließen. Die Gefahr eines Bruches besteht ja immer.

          Bei Putin steigen aber die Chancen, wenn das Abkommen viel enthält, was ihm gefällt.

          • @warum_denkt_keiner_nach?:

            Ich glaube das steigert seinen zukünftigen appettit nur noch.

  • Ob die Menschen in Moskau oder St. Petersburg ahnen, was Ihnen noch drohen könnte, wenn der Kremlkönig so weitermacht?

    • @vieldenker:

      Natürlich ahnen sie das. Allerdings drohen auch hauptsächlich große Worte.



      Das liegt am Unterschied zwischen wollen und können.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Können, könnte man schon. Aber wollen will man es zum Glück (noch) nicht wirklich. Würde mich an deren Stelle aber nicht darauf verlassen, dass das Zeitfenster für einen echten Rückzug dauerhaft geöffnet bleibt.

        • @vieldenker:

          "Können, könnte man schon."

          Wenn ich die Ankündigungen der letzten Jahre mit den vorhandenen Möglichkeiten vergleiche, würde ich schon sagen, dass das Wollen deutlich größer ist, als das Können.

  • Die Angriffe heute Nacht sind die Antwort des Kreml auf die Friedenspläne aus dem Weißen Haus.

    • @Il_Leopardo:

      Russland zieht einfach sein Ding durch, bis etwas unterschrieben ist.

      Es wird dabei kaum eine Rolle spielen, was die westlichen Staaten untereinander besprechen oder an Treffen abhalten.

      Viel größeren Einfluss wird haben, wie viele Raketen und Drohnen aus den Fabriken kommen und wie lange die Vorbereitung des Angriffs dauert. Dann wird gefeuert. Unabhängig davon, was wir gerade treiben.

    • @Il_Leopardo:

      "Wenn ukrainische Drohnen hingegen Russland angegriffen hätten, könne man davon ausgehen, dass es bereits in der nächsten Nacht zu russischen Luftangriffen komme."

      Das ist wohl eher der Fall.

      "Nach Angaben des russischen Militärs war es einer der schwersten ukrainischen Drohnenangriffe seit Kriegsbeginn. Das Verteidigungsministerium in Moskau macht zwar traditionell keine Angaben zu Schäden, berichtete aber über die Abwehr von insgesamt 249 Drohnen.

      Parallel dazu hat auch Russland die Ukraine beschossen. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gab es nach Angaben des Leiters der Militärverwaltung, Tymur Tkatschenko, mindestens vier Tote und mehrere Verletzte. Russland setzte neben Drohnen auch Raketen und Marschflugkörper ei"

      www.n-tv.de/politi...en-id30064890.html

    • @Il_Leopardo:

      Das Putin die europäische Änderungsvorschläge ablehnt, sollte doch eigentlich jedem klar sein. Davon abgesehen sagt die Stärke von Kriegshandlungen nichts über die Chancen zu einem Frieden aus. Oft es sogar so, dass Kriegshandlungen vor einem Abkommen besonders brutal ausfallen. Oder hatten Sie die Annahme, dass Putin über Nacht ein Friedensengel hätte werden können?