Gerichtsurteil zum Palästina-Kongress: Polizeistaatsräson
Nun steht fest: Die Auflösung des Palästina-Kongresses in Berlin war rechtswidrig. Aber wer trägt die Verantwortung dafür und entschuldigt sich?
L egal? Illegal? Scheißegal! Diese alte Anarchoparole scheinen sich heute auch manche Amtsträger zu eigen zu machen. Aber in den Händen der Macht läuft dieses Motto auf Willkür und Machtmissbrauch hinaus. Die Auflösung und das Verbot des Palästina-Kongresses, der im April 2024 in Berlin stattfinden sollte, waren rechtswidrig, hat ein Gericht nun festgestellt. Gut so. Doch wer trägt die Verantwortung dafür, entschuldigt sich und zieht Konsequenzen? Das bleibt offen, auch wenn Berlins Polizeichef dafür seinen Kopf hinhält. Doch es ist sehr unwahrscheinlich, dass er auf eigene Faust handelte, als er seinen Beamten befahl, den Kongress ohne jeden triftigen Grund aufzulösen.
Die Verantwortung dafür tragen Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) oder Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD), wenn nicht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Schließlich war sie für die Bundespolizei zuständig, die den Arzt Ghassan Abu-Sittah, der als Gast am Palästina-Kongress teilnehmen sollte, im April 2024 an der Einreise nach Deutschland hinderte. Auch das war rechtswidrig, wie ein anderes Gericht erst vor drei Wochen in zweiter Instanz bestätigt hat.
Die Verantwortlichen wussten, dass ihr Vorgehen rechtswidrig war. Sie haben sich trotzdem über Recht und Gesetz hinweggesetzt – wohlwissend, dass es viele Monate dauern würde, bis ein Gericht sie dafür rügen würde. Gerade bei Parteien, die sonst so gerne auf Law and Order pochen, ist diese Arroganz der Macht bemerkenswert. Aber sie hat System. Denn die rechtswidrige Auflösung des Palästina-Kongresses ist nur die Spitze des Eisbergs.
Schikanen mit System
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Seit Monaten werden in Deutschland Proteste behindert oder von der Polizei mit Gewalt aufgelöst, Veranstaltungen selbst an Universitäten verhindert und sogar Theaterstücke abgesagt, um im Sinne einer ominösen „Staatsräson“ unerwünschte Kritik an Israel zu unterbinden. Das hat einen Chilling Effect, es schüchtert ein. Und nirgends greift die Polizei gegen propalästinensische Proteste so hart durch wie in der Hauptstadt, wo sogar schon Bundestagsabgeordnete verprügelt wurden. Das erinnert an einen Polizeistaat, nicht an eine Demokratie.
Diese Einschränkungen der Meinungs-, Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit und die exzessive Polizeigewalt sind bedenklich; sie lassen sich auch nicht durch vermeintlich beste Absichten rechtfertigen. Zum Glück schieben die Gerichte manchen Exzessen einen Riegel vor. Aber das reicht nicht. Um den Rechtsstaat zu schützen, braucht es auch eine Opposition, die auf Rechtsstaatlichkeit pocht. Und es braucht Medien und Journalistinnen und Journalisten, die ihrer Aufgabe als vierte Gewalt nachkommen und der Regierung auf die Finger schauen, statt sich als Ersatzpolizei zu gerieren. Sonst sterben Rechtsstaat und Demokratie schleichend und scheibchenweise.
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