Armutsforscher zum Reichtumsbericht: „Wer mehr erfahren will, greift besser zum ‚Manager Magazin‘“
Der am Mittwoch von der Regierung beschlossene Armuts- und Reichtumsbericht verschleiert die wahren Probleme, kritisiert Armutsforscher Christoph Butterwegge.
taz: Herr Butterwegge, laut dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sind die oberen 10 Prozent gar nicht reicher geworden. Von 2010 bis 2023 ist ihr Anteil am Nettovermögen gesunken, von 59 auf 54 Prozent. Ist das eine gute Nachricht?
Christoph Butterwegge: Das wäre es. Aber ich bezweifle, ob dem tatsächlich so ist.
taz: Also lügt dieser Bericht?
Butterwegge: Er trügt. Vermögensreich ist demnach, wer ein Nettovermögen von mehr als 500.000 Euro in Preisen von 2017 hat. Und als einkommensreich gilt, wer ein Nettoeinkommen über 4.500 Euro im Monat hat.
Christoph Butterwegge ist Mitglied im Wissenschaftlichen Gutachtergremium des Arbeits- und Sozialministeriums für den Siebten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht. Der 74-jährige Parteilose kandidierte 2017 erfolglos für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten.
taz: Was ist daran falsch?
Butterwegge: Es ist nicht sinnvoll, den Besitzer eines Eigenheims oder einen Oberstudienrat und Dieter Schwarz, der als Eigentümer von Lidl und Kaufland über ein Privatvermögen von 46,5 Milliarden Euro verfügt, gleichermaßen „reich“ zu nennen. In dem Bericht taucht das Wort „Milliardär“ auf fast 700 Seiten gar nicht auf.
taz: Die Superreichen werden in dem Bericht nicht erfasst?
Butterwegge: Das Statistische Bundesamt hat über Reichtum keine Daten. Man weiß zwar, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es in Deutschland gibt, aber nicht wie viele Reiche und Hyperreiche. Die fünf reichsten Familien verfügen in Deutschland über ein Privatvermögen von 250 Milliarden Euro. Das ist so viel, wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt, mehr als 40 Millionen Menschen. Das fehlt in dem Bericht.
taz: Wie erfasst man Reichtum denn präziser?
Butterwegge: Das ist fünf DIW-ForscherInnen gelungen, die nicht bloß Registerdaten, sondern auch das Reichen-Ranking des Manager Magazins ausgewertet haben. Demnach besitzen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 67,3 Prozent des Netto-Gesamtvermögens, das reichste Prozent 35,3 Prozent und auch das reichste Promille noch 20,4 Prozent. Die Konzentration des Reichtums ist viel größer, als dieser Bericht glauben macht, der die wahren Eigentumsverhältnisse verschleiert. Das ist sein zentraler Mangel.
taz: Wie steht es um die Armutsgefährdung Älterer?
Butterwegge: Das Armutsrisiko für diese Gruppe ist in den vergangenen Jahren am stärksten gestiegen. Ich spreche von einer Re-Seniorisierung der Armut, weil aufgrund der hohen Kinderarmut früher von einer Infantilisierung der Armut die Rede war. Mittlerweile nehmen 750.000 Rentnerinnen und Rentner die Grundsicherung im Alter in Anspruch. Das seien relativ wenige angesichts von 21 Millionen Rentnern, beruhigt der Bericht. Er blendet die sehr hohe Dunkelziffer einfach aus. In der Forschung geht man davon aus, dass nur ein Drittel der Anspruchsberechtigten einen Antrag stellt. Und armutsbetroffen sind auch Menschen, denen gar keine Transferleistungen zustehen.
taz: Eine zweite Zahl lautet: Das Nettoeinkommen der Ärmeren ist 2021 bis 2024 gestiegen. Wer Mindestlohn verdiente, bekam 29 Prozent mehr, wer Bürgergeld erhielt, bekam 22 Prozent mehr. Eine erhebliche Erhöhung, oder?
Butterwegge: Selbst wenn die Ärmsten nominell hinzugewinnen, können sie real zurückfallen und/oder hinter den Reichen stärker zurückbleiben. Am meisten zugelegt haben Multimillionäre und Milliardäre, die es im Regierungsbericht gar nicht gibt. Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion im Gefolge des Ukrainekrieges und die Inflation haben als Katalysatoren der sozialen Polarisierung gewirkt. Das verschleiert dieser Bericht ebenfalls.
taz: Wie?
Butterwegge: Indem eine andere Berechnungsgrundlage benutzt wird. Die Prozentzahl der Armutsgefährdeten liegt aktuell bei 15,5. Nach der früheren Berechnungsmethode läge die Armutsrisikoquote jedoch bei 16,5 Prozent. 30 WissenschaftlerInnen haben dagegen in einem Brief an die Präsidentin des Statistischen Bundesamtes protestiert.
taz: 2018 lag die Armutsquote bei 18,7. Sie ist seitdem leicht gesunken, auch wenn man die alte Berechnungsgrundlage nimmt.
Butterwegge: Das mag sein. Interessanter als die Frage, ob die Armutsquote einen Prozentpunkt höher oder niedriger liegt und ob dafür statistisches Flimmern oder die Realität verantwortlich ist, erscheint mir die Frage nach den Ursachen der Entwicklung.
Christoph Butterwegge
taz: Sind Zahlen nicht das Entscheidende bei diesem Bericht?
Butterwegge: Der Bericht enthält eine Unmenge von Statistiken, Tabellen und Schaubildern mit zum Teil sehr informativen Daten. Gleichwohl ähnelt er einem Datenfriedhof, der strukturelle Zusammenhänge nicht erfasst, sondern verdeckt. Dabei lautete der zentrale Auftrag an die Regierung in einem Bundestagsbeschluss vor 25 Jahren: „Die Berichterstattung muss die Ursachen von Armut und Reichtum darlegen.“ Dazu fehlt auf 700 Seiten jedes Wort. Auch dazu, warum die Gesellschaft immer stärker auseinanderdriftet und die Mittelschicht Angst vor einem sozialen Abstieg hat.
Auf 600 Seiten zeigt der „Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ die wirtschaftliche Lage der Menschen in Deutschland. Kaum überraschend: Wegen Armut müssen 17,6 Prozent der Menschen in Deutschland auf wichtige Güter, Dienstleistungen oder Aktivitäten verzichten.
Die Unterschiede bei Einkommen sind zwischen 2010 und 2020 gewachsen – denn die verfügbaren Haushaltseinkommen stiegen den Angaben zufolge zwar in allen Einkommensschichten, aber bei Gutverdienern mehr als bei Menschen mit geringerem Lohn oder Gehalt. Auch die Inflation trifft Geringverdiener stärker.
Bei Vermögen habe sich die Ungleichheit verringert, sie sei aber größer als bei den Einkommen, heißt es im Bericht. „Die zehn Prozent vermögendsten Haushalte besitzen 54 Prozent des gesamten Nettovermögens. 2010/11 waren es noch 59 Prozent. Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung besaßen dagegen nur etwa 3 Prozent des Gesamtvermögens.“
Eine Befragung ergab laut Bericht, dass viele Menschen subjektiv das Ausmaß von Armut und Reichtum höher einschätzen als dies nach üblichen statistischen Maßstäben ausgewiesen wird. Als arm gelten laut Statistik Haushalte mit einem Einkommen von etwa 1.300 Euro monatlich, Einkommensreichtum beginnt laut gängiger statistischen Abgrenzung bei etwa 4.300 Euro, wie es im Bericht heißt. (dpa/taz)
taz: Also ist der Bericht zu affirmativ?
Butterwegge: Für die Bundesregierung, deren „entschlossenes Handeln“ im Bericht gelobt wird, ist er eine politische Erfolgsbilanz und kein sozialer Problemaufriss. Wer mehr über Reichtum und die Konzentration der privaten Vermögen erfahren will, greift daher besser zum Sonderheft des Manager Magazins, das 256 Milliardäre in Deutschland aufführt. Und wer über Armut mehr erfahren will, greift besser zum Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der die Lage jedes Jahr kompetent zusammenfasst.
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