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Syrischer ÜbergangspräsidentDas Chamäleon von Damaskus

Vor rund einem Jahr wurde der syrische Diktator Baschar al-Assad gestürzt. Und der neue Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa? Windet sich in seiner neuen Rolle.

Syrischer Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa Ende Mai in Aleppo Foto: Khalil Ashawi/reuters

Ahmad al-Sharaa hat so etwas wie ein Leitmotiv, einen Satz, den er bei seinen Auftritten immer wieder gerne wiederholt: „Beurteilt mich nach dem, was ich heute bin, nicht nach dem, was ich gestern war“. Heute – das ist al-Scharaa als syrischer Übergangspräsident, der Staatsmann, der sich in Anzug und Krawatte und säuberlich getrimmtem Bart auf internationalem Parkett bewegt und der nun seit fast genau einem Jahr die Macht in Damaskus innehat, seit dem Sturz des syrischen Diktators Baschar Al-Assad am 8. Dezember 2024.

Er trifft sich abwechselnd mal mit US-Präsidente Donald Trump, mal mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, und mit den Monarchen und Emiren der arabischen Golfstaaten.

Gestern, das war al-Scharaa – noch unter seinem Kampfnamen „Abu Mohammad Al-Jolani“ bekannt – der mit seiner dschihadistischen Rebellentruppe Hay'a Tahrir Al-Scham (HTS), das Land fast über Nacht überrannte und die Regimetruppen und den Diktator nach 16 Jahren Bürgerkrieg in die Flucht trieb. Damals tat er dies nicht im Anzug, sondern als Rebellenführer mit langem wildem Bart und einer Camouflage-Uniform. Sein Markenzeichen.

Die hatte er aber schon lange abgelegt, als er im November auf seiner 20. Auslandsreise von Trump ins Weiße Haus geladen wurde. Kurz zuvor wurde er noch schnell von der US-Terrorliste gestrichen, auf der er zusammen mit seiner Rebellentruppe HTS wegen deren einstigen Verbindungen zu Al-Kaida stand. Genau 20 Jahre, nachdem er im US-Gefangenenlager Bucca im Irak als militanter, dschihadistischer Widerstandskämpfer gegen die US-Besatzungsarmee eingebuchtet worden war, wurde ihm im Weißen Haus der rote Teppich ausgelegt.

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Viel Lob von Trump

Trump überschlug sich fast in seinen lobenden Tönen. „Er ist eine starke Führungsperson“, sagte Trump im Oval Office. „Er kommt von einem toughen Ort und er ist ein harter Typ, ich mag ihn, wir verstehen uns gut… und wird werden alles daransetzen, dass Syrien ein erfolgreiches Projekt wird,“ so der amerikanische Oberbefehlshaber. Daneben versprach Trump, einen großen Teil der US-Sanktionen gegen Syrien für ein weiteres halbes Jahr auszusetzen. Für alles weitere benötigt er die Zustimmung des US-Kongresses.

Rückblick in al-Scharaas bewegte Vergangenheit. Geboren 1982 in Saudi-Arabien, kehrten seine syrischen Eltern mit ihm sieben Jahre später in ihre Heimat zurück, nach Mezzeh, in Damaskus. Als ruhig, introvertiert und wortkarg, bezeichneten Nachbarn den kleinen Ahmad von damals. Der wuchs in Damaskus heran und schloss sich später, wie viele junge Syrer, dem militanten Widerstand gegen die US-Besatzung im benachbarten Irak an und begann seine dschihadistische Karriere. Die endete dann aber recht bald im US-Gefangenlager Bucca.

Was die Amerikaner damals nicht ahnten: Das Lager erwies sich als Brutkasten späterer militanter islamistischer Anführer. Der wohl prominenteste Insasse war Abu Bakr-Al-Baghadi, ein junger stiller islamischer Gelehrter, der später den Islamischen Staat, den berüchtigten IS gründen sollte. Al-Jolani, der Kampfname, den sich al-Scharaa damals gab, wurde nach fünf Jahren in US-Gefangenschaft 2011 wieder auf freien Fuß gesetzt.

Er wurde nach Syrien geschickt, und gründete dort die dschihadistische Al-Nusra-Front. 2013 wurde der offizielle Zusammenschluß zwischen der Al-Nusra-Front und dem IS verkündet. Doch al-Jolani fühlte sich beim IS nie wirklich zu Hause. In seinem ersten Interview mit einem westlichen Medium mit dem PBS-Journalisten Martin Smith 2021 blickte er auf diese Zeit zurück. Er beschrieb darin die falsche Politik des IS unschuldige Menschen zu töten. Er beschloss, seinen Kompass, wie er es damals nannte, zu ändern, indem er sich vom IS distanzierte.

Sein Ziel: Der Sturz des Assad-Regimes

Um seine dschihadistische Glaubwürdigkeit zu behalten, schwörte er stattdessen der Terrorgruppe Al-Kaida die Treue. Es war kein lang anhaltendes Bündnis. Er formte zunächst die Jabhat Fateh al-Sham und schloss sich Anfang 2017 mit anderen militanten Gruppierungen zur Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) zusammen. Damit ging auch der Bruch mit Al-Kaida einher. Al-Jolani erklärte, die Zeit des „grenzenlosen Dschihads“ wie be Al-Kaida sei vorbei. Er würde sich mit seiner Gruppierung ausschließlich dem Sturz des Assad-Regimes widmen.

Es war aber auch eine Zeit der internen Kämpfe zwischen den islamistischen Gruppen in Syrien, bei dem al-Jolanis HTS die Oberhand gewann. Damals trat der Machtmensch al-Jolani in den Vordergrund. Abu Yahia Al-Schami, der einer anderen kleineren islamistischen Fraktion angehörte, beschrieb diesen al-Jolani von damals als einen „pragmatischen Menschen, der alles und jeden opfert, um an die Macht zu gelangen“.

„Er schaltete seine Gegner und Rivalen aus oder neutralisierte sie, um sie dann in seine Gruppe einzugliedern. Bis das Feld von allen konkurrierenden Projekten geleert wurde“, schildert die arabische Tageszeitung Al-Sharq Al-Aussat den al-Jolani dieser Periode. Er verstünde es, aus seinen Erfolgen Kapital zu schlagen und aus seinen Fehlern mit dem IS und dem Kaida-Ableger der Al-Nusra-Front zu lernen, beschreibt ihn Abu Yahia Al-Schami.

Al-Jolani und seine HTS standen vor völlig neuen, ungewohnten Aufgaben. Sie hatten die nordwest-syrische Provinz Idlib unter ihrer Kontrolle, in der vier Millionen Menschen lebten. Die Menschen erwarteten Dienstleistungen und einen Wiederaufbau. Al-Jolani gründete dann die „Syrische Rettungsregierung“. Jetzt ging es darum, nicht nur zu kämpfen, sondern effektiv zu verwalten. Nach dem schweren Erdbeben in der Türkei 2023, das auch viele Teile Idlibs zerstörte, übernahm al-Jolanmi die Aufsicht über den Wiederaufbau.

Über Nacht die Herren des Landes

Gleichzeitig bereitete er seine Truppen auf den Marsch auf Damaskus vor. Anfang Dezember 2024 gelang dieser innerhalb weniger Tage. Das Regime in Damaskus war so ausgehöhlt, das es vor den Augen der Welt kollabierte und niemand war mehr ernsthaft bereit, es mit Waffengewalt zu verteidigen. Al-Jolanis HTS-Kämpfer nahmen Damaskus ein und fanden sich über Nacht als die neuen Herren des Landes wieder.

Und al-Jolani erfand sich erneut neu. Bestätigt als Übergangspräsident des Landes, nutzte er seinen zivilen Namen Ahmad al-Scharaa. Er sprach vom nationalen Dialog, von einem All-Inclusive-Syrien, um die Minderheiten und Frauen einzubeziehen. „Eine Person in den 20ern hat eine andere Persönlichkeit als eine in den 30ern oder 40ern und mit Sicherheit in den 50ern. Das ist menschlich“. Da war er wieder, der klassische al-Scharaa-Satz. Gefallen ist er in einem Interview mit CNN vor einem Jahr. Er wollte beweisen, dass er nicht mehr der Dschihadist, sondern der Staatenlenker war.

Doch der Übergang erwies sich als zäh. Im Februar wurde eine Nationale Dialog-Konferenz ins Leben gerufen. Im März wurde die Übergangsphase in einer Verfassungserklärung auf fünf Jahre festgelegt. Im Oktober fanden sehr kontrollierte Wahlen für ein Übergangsparlament statt, in der ein Drittel der Mitglieder von al-Scharaa selbst bestimmt wurden.

Doch den Lebensstandard der Menschen zu steigern, von denen während des Bürgerkrieges 90 Prozent unter der Armutsgrenze lebten, staatliche Dienstleistungen voranzutreiben und Infrastruktur aufzubauen, braucht Zeit. Für die Menschen geht das alles zu langsam.

Kurden wollen Eigenständigkeit behalten

Dazu kommen interne Spaltungen. Die Kurden im Nordwesten trauen der HTS-dominierten Führung nicht und wollen ihre im Bürgerkrieg gewonnene Eigenständigkeit behalten. Ein Abkommen zwischen ihnen und al-Scharaa lässt viele Fragen offen.

Reste des alten Regimes legten im März Hinterhalte gegen den neuen von HTS-Leuten angeführten Sicherheitsapparat. Der reagierte mit einem Massaker in den Dörfern an der von Alawiten dominierten Mittelmeerküste, die als Kollaborateure des alten Regimes angesehen werden. Fast 1500 Menschen wurden getötet.

Dazu kommen Abspaltungsbewegungen unter den Drusen im Süden. Rund um die Stadt Suweida kommt es im Juli zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Drusen und den ebenfalls im Süden lebenden sunnitischen Beduinenstämmen. Al-Scharaa schickte sein einziges ihm zur Verfügung stehendes Sicherheitsinstrument, um die Lage zu beruhigen – seine alten HTS-Kämpfer. Die waren aber nicht als Lösung, sondern wurden schnell ein Teil des Problems.

Und Israel vermarktete sich als Schutzmacht der Drusen und begann Stellungen der syrischen Truppen al-Scharaas zu bombardieren. Der betonte in einer Fernsehansprache in Damaskus, dass die Drusen ein fester Bestandteil der syrischen Gesellschaft seien und er es nicht zulasse, dass sie in die Hände einer externen Macht getrieben würden.

Israel nutzte Machtvakuum

Seine größte außenpolitische Herausforderung ist der Nachbarstaat Israel. Dessen Premier Benjamin Netanjahu nutzte nach dem Sturz Assads das Machtvakuum, um mit israelischen Angriffen das syrische Militär um Jahrzehnte zurückzubomben. Daneben besetzte die israelische Armee noch eine Pufferzone, zusätzlich zu einer bereits existierenden Pufferzone zu den 1967 israelisch besetzten syrischen Golanhöhen und steht heute 40 Kilometer vor Damaskus.

Al-Scharaa hofft jetzt, seine guten Beziehungen zu Trump zu nutzen, um ein Abkommen mit Israel zu erreichen. Damit sollen sich die israelischen Truppen aus den kürzlich neu besetzten Gebieten zurückziehen und Washington garantieren, dass es keine weiteren israelischen Angriffe auf Syrien gibt. Doch trotz amerikanischen Drucks, weigert sich die israelische Regierung hier einzulenken. Israel möchte den Süden Syrien entmilitarisieren.

Ansonsten fährt al-Scharaa außenpolitisch der Linie vieler Länder in der Region, indem er versucht, nicht nur Washingtons guter Freund zu sein. Obwohl Russland neben dem Iran der wichtigste Bündnispartner Assads war, und die russische Luftwaffe für den Tod von unzähligen Menschen in den damaligen Rebellengebieten verantwortlich ist, besuchte er im Oktober den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau. Genau an jenem Ort, an dem der gestürzte Diktator Assad Zuflucht gefunden hatte. Russland kann sogar vorläufig seine Militärbasis am Mittelmeerhafen von Tartus behalten. Al-Scharaa möchte sicherstellen, dass Putin nicht politisch gegen das neuen Syrien schießt.

Im Oktober trat al-Scharaa als erster syrischer Präsident seit sechs Jahrzehnten bei der UN-Generalversammlung auf. Im Time Magazin tauchte er auf der Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt 2025 auf. Auch Katar, die Türkei und Saud-Arabien empfingen ihn oder deren Staatschefs fuhren selbst nach Damaskus. Sie wollen das politische und ökonomische Vakkum füllen, das die alten Assad-Verbündeten Russland und Iran hinterlassen haben.

Ob Trump, Putin, die Golfstaaten oder die Türkei: sie alle wissen, dass sie bei der Wahl zwischen einem stabilen oder zerrütteten Syrien derzeit auf al-Scharaa setzen müssen. Denn es ist der ehemalige Dschihadist, der derzeit alle syrischen Vollmachten in seinen Händen hält.

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