Olivenernte in Gaza: Die Früchte von morgen
Olivenbäume werden meist über viele Generationen vererbt, doch in Gaza hat der Krieg dieses Erbe zerstört. Olivenbauer Ayesh Muslih will trotzdem nicht aufgeben.
T ahseen al-Abadla sagt: „Der Olivenbaum ist ein gesegneter Baum.“ Und fährt fort: Seitdem er fünf Jahre alt sei, lebe er zwischen den Olivenbäumen, die sein Vater damals pflanzte, in al-Qarara, einer Kleinstadt zwischen Chan Yunis und Gaza-Stadt, etwa in der Mitte des Küstenstreifens. „Die Bäume werden vererbt, von Eltern an ihre Kinder und dann an ihre Großeltern“, sagt er. „Ein Mensch stirbt vielleicht, aber der Baum bleibt am Leben.“
Doch nun ist von den 36 Bäumen, die er einmal von seinem Vater erbte, nur noch ein einziger übrig. Der Rest ist zerstört: Die Stämme sind entwurzelt, die Äste vertrocknet, das Land ist planiert. Es ist die Saison der Olivenernte in Palästina – doch zu ernten gibt es kaum etwas, sagt er.
Ab Ende September bis in den November hinein werden in den palästinensischen Gebieten Oliven geerntet. Doch in diesem Jahr zeigt sich dabei ganz exemplarisch, wie sich das Leben der Menschen in den palästinensischen Gebieten seit dem Hamas-Überfall auf Südisrael am 7. Oktober 2023 verändert hat.
Im Westjordanland haben die Angriffe extremistischer Siedler auf palästinensische Olivenbauern massiv zugenommen. Das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) berichtet von 126 Angriffen in weniger als vier Wochen. Dabei wurden auch mehr als 4.000 Olivenbäume beschädigt. Ein Video, bei dem ein Siedler eine ältere Frau bei der Ernte mit einem Holzstock angriff, ging viral. Sie wurde schwer verletzt. Immer wieder stellen sich israelische und internationale Aktivistinnen und Aktivisten vor die Bauern, versuchen sie vor den Angriffen zu schützen. Und immerhin gibt es noch eine Ernte.
Aus Feldern werden Brachen
Im Gazastreifen hingegen sind von etwa 1,1 Millionen Olivenbäumen, die dort einmal wuchsen, 1 Million zerstört. Sie wurden bei Angriffen zerstört, vom israelischen Militär ausgerissen, oder gingen ein, weil sie nicht mehr gepflegt werden konnten.
Hinzu kommt die anhaltende Präsenz des israelischen Militärs, wie im derzeit geltenden Waffenruhe-Abkommen festgehalten. Es hat sich bislang auf die sogenannte Gelbe Linie zurückgezogen und hält damit noch 53 Prozent des Gazastreifens. Diese No-go-Zone für palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten verläuft entlang der Grenze zu Israel und Ägypten und reicht etwa 1,5 Kilometer in den Gazastreifen hinein. Innerhalb der Zone liegen die Überreste von vor dem Krieg dicht besiedelten Orten wie der südlichen Stadt Rafah. Aber auch viele landwirtschaftliche Anbauflächen. Denn die befanden sich im dicht besiedelten Gazastreifen vor allem nahe der Grenze und zwischen Metropolen wie Gaza-Stadt und Chan Yunis.
Ayesh Muslih, Olivenbauer
Etwa 41 Prozent der Fläche Gazas, so die israelische Nichtregierungsorganisation Gisha, wurde vor dem Krieg landwirtschaftlich genutzt. Im Juli 2025, so Gisha, waren etwa 90 Prozent der Flächen „inaccessible“ – also von Palästinensern nicht betretbar. Die Positionen des Militärs haben sich in Summe seitdem recht wenig verändert.
Tahseen al-Abadla steht zwar auf seinem Land, das er eigentlich einmal landwirtschaftlich nutzte. Doch aus dem Feld ist eine Brache geworden. Ein hagerer Mann mit schütterem Haar inmitten von entwurzelten, toten Bäume, die Äste grau, das Laub abgefallen. Dazwischen Steine und Schutt. In den umliegenden Häusern fehlen die Fenster und immer wieder auch einige Wände.
Das Land planiert
Der Anbau von Oliven, erzählt er, war für ihn und seine Familie ein Zubrot, die Menge an Bäumen zu gering, um nur von ihrem Ertrag zu leben. Denn auch vor dem Krieg war die ökonomische Situation im Gazastreifen für einen großen Teil der Bevölkerung alles andere als gut. Im Jahr 2021, so berichtet es das Palästinenserhilfswerk UNRWA, war beinahe die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos.
Im Jahr 2023, als der Krieg bereits begonnen hatte, habe er noch mit einigen Arbeitern die Bäume abgeerntet. Im Jahr 2024, erzählt er, sei die Ernte sehr schlecht ausgefallen. Denn im Dezember 2023 wird er vertrieben, als das israelische Militär mit einer Offensive auf al-Qarara beginnt. „Ab und an haben wir damals auf dem Feld vorbeigeschaut. Doch wir konnten die Bäume nicht pflegen, sie nicht wässern“, sagt er. Auch in diesem Jahr hat niemand die Bäume gepflegt.
Auch Ayesh Muslihs Olivenbäume sind in den vergangenen beiden Jahren verkommen. Etwa 270 Bäume bewirtschaftete er einmal in al-Qarara, erzählt er. Übrig geblieben, sagt er, sind davon nach zwei Jahren Krieg im Gazastreifen noch etwa zwanzig Stück.
Der Rest wurde herausgerissen, das Land planiert, auch die Zitrusbäume, eine Lagerhalle, die Wohnhäuser seiner Geschwister, das alte Leben der Familie. „Ein Haus, in dem es Olivenöl gibt, hungert nie“, zitiert Muslih ein geflügeltes Wort im Gazastreifen. Doch eigenes Olivenöl findet sich in seinem Haus kaum mehr.
Barfuß auf der Flucht
Der 34-Jährige und seine Familie haben während des Kriegs den Zugang zu seinem Land verloren, so erzählt er es. Gleich zu Beginn, Anfang Dezember 2023, als die israelische Offensive auf al-Qarara begann. „Meine Frau und ich flohen, während sie bombardierten, barfuß mit unseren drei Kindern Richtung Süden“, sagt er. Monatelang blieben sie vertrieben, erst in Rafah, dann nahe al-Qarara.
Dann zog das israelische Militär wieder aus dem Ort ab, die Familie konnte auf ihr Land zurückkehren. „Zwölfmal mussten wir dann trotzdem wieder temporär flüchten“, sagt er, „weil das israelische Militär immer wieder Evakuierungsaufforderungen schickte.“
Ein Teil seines Hauses stehe noch, sagt er. Aber nicht die Ställe, in dem er einmal Tiere hielt: Geflügel, ein paar Kühe und Pferde. Sie leben nicht mehr. Sein Vater, erzählt er, habe beim Anblick der hinterlassenen Zerstörung einen Herzinfarkt bekommen. „Alles, was er über Jahre aufgebaut hatte, die Ernte seines Lebens – ein Haufen Trümmer“, sagt er.
Eine produktive Farm betrieb Ayesh Muslih einmal. Doch das ist zum Erliegen gekommen. Er erzählt: Auch die zwanzig noch stehenden Bäume würden in diesem Jahr keine Früchte tragen.
Die Pflege eines Olivenbaums sei eigentlich recht einfach: „Man pflanzt ihn und behandelt ihn wie ein Kind: Jeden Morgen wässern wir den Baum, vierzig Tage lang. Wir haben ein Sprichwort: „Nach vierzig Tagen – sorg dich nicht mehr darum.“ Seien die Bäume erst einmal gut angewachsen, werde die Pflege einfach. „Manchmal versprühen wir Pestizide, zwei- bis dreimal pro Woche wässern wir die Bäume. Wir nehmen trockene Äste ab und trimmen sie ein wenig.“ Kein Vergleich, sagt er, zu Obstbäumen oder dem Anbau von Gemüsepflanzen. Die Ernte, sagt er, war vor dem Krieg recht sicher.
Doch die Leitungen für das Wasser, erzählt er, funktionieren nicht mehr. Und etwa Dünger ist auf den Märkten des Gazastreifens kaum zu finden, eine angemessene Pflege der Bäume kaum möglich.
Keine Beschäftigung für Saisonarbeiter
Das ganze Öl, das er und die vielen anderen Bauern sonst im Gazastreifen produzieren, fehlt nun. Ebenso die Schlachttiere, das Obst und Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchte. Die lokale Lebensmittelproduktion, schreibt Gisha in einem Bericht, sei völlig kollabiert. Das trifft die Menschen umso härter, weil Israel noch immer zu wenig Hilfslieferungen nach Gaza durchlässt.
Etwa 62.000 Tonnen Lebensmittel, so schätzen es die Vereinten Nationen, bräuchten die etwa 2 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner Gazas im Monat. Im Oktober kamen laut der zuständigen israelischen Behörde Cogat etwa 27.000 Tonnen Nahrungsmittel nach Gaza. Vierzig Prozent davon werden vom „privaten Sektor“ importiert. Sie werden also tendenziell auf den Märkten verkauft, nicht etwa als Hilfe an die Bevölkerung verteilt. Dass die Hamas davon profitiert, liegt nahe. Und in einem Gebiet, in dem ein großer Teil der Menschen im Laufe des Kriegs auch seine Arbeit verloren hat, ist das bereits das nächste Problem.
Ayesh Muslih entlohnt in diesem Jahr keine Saisonarbeiter. Wie bereits im vergangenen Jahr. Auch für seine Arbeiter, die die Bäume das Jahr über pflegten und bewässerten, Pestizide versprühten und neue Sämlinge setzten, hat er seit Oktober 2023 keine Aufgaben mehr. Das bedeutet: Noch eine Einkommensquelle weniger im Gazastreifen.
Die Kosten für die Pestizide, die Bewässerung und die Arbeiter machten vor dem Krieg etwa ein Drittel des Ertrags aus, erzählt er. Den verbliebenen Gewinn habe er sich mit seinen Brüdern geteilt, die ganze Familie davon ernährt. „Wir sind ein Familienbusiness.“
Ein Mix aus Lehm und Sand
Auch al-Abadla beschäftigte einmal Saisonarbeiter: Je nach geschätztem Ertrag habe er sie angeheuert, ihnen einen kleinen Lohn gezahlt, dazu einen Teil der geernteten Oliven und des anschließend gepressten Öls. Der Krieg habe ihm die Ernte genommen – „und auch unseren Arbeitern“, sagt er.
Verschiedene Sorten an Oliven habe er angebaut, mit verschiedenen Vorzügen: Serri-Oliven, aus denen Öl gespresst wird. Schamlai-Oliven, die besonders widerstandsfähig sein sollen. Und Syrische Oliven, die als sehr ertragreich gelten. Der Boden in Gaza, sagt er, sei „ideal für Oliven“: ein Mix aus Lehm und Sand, der das Wasser für längere Zeit hält und so an die Bäume abgibt.
Viel Arbeit habe ihm ihre Pflege bereitet, doch das habe ihn nie gestört. „Ich baue Oliven nicht nur an, weil wir sie brauchen, sondern auch, weil ich die Bäume liebe.“ Die Bäume habe er fast täglich gewässert, immer wieder gedüngt, drei- bis viermal pro Jahr Pestizide gesprüht und bei Bedarf die Äste zurückgeschnitten. Weil keine Leitungen direkt auf sein Feld führten und er auch keinen Brunnen besaß, erzählt er, habe er das Wasser einem Nachbarn abgekauft.
Auch Ayesh Muslih baute verschiedene Sorten an, auf verschiedenen Flächen. Und erntete mit seinen Arbeitern die über 200 Bäume von Hand ab. Nur Netze habe er als Hilfsmittel benutzt, um die Bäume zu schonen. „Die reifen Oliven sammeln wir dann in Eimern. Je nach Anzahl der Arbeiter dauert die Ernte auf einem Dunum etwa zwei bis drei Tage.“ Ein Dunum, eine alte Landeinheit noch aus osmanischer Zeit, entspricht etwa 1.000 Quadratmetern.
Nur noch 100 Olivenbäume
Die Oliven, erzählt er weiter, habe er nach der Ernte aufgeteilt: Die besten Früchte habe er eingelagert. Den Rest habe er zur Ölmühle gebracht. „Unsere gute Qualität war in ganz Gaza bekannt“, sagt er. „Viele Händler wollten von uns kaufen.“ Einen Liter normales Olivenöl habe er dann für etwa 10 Schekel, etwa 2,70 Euro, verkauft. Oder sortenreines Öl in großen 20-Liter-Kanistern für etwa 70 bis 100 jordanische Dinar, also etwa 85 bis 120 Euro. In den palästinensischen Gebieten wird meist in Schekel gezahlt, größere Beträge aber auch in US-Dollar oder jordanischen Dinar, die Währungen sind parallel im Umlauf.
Heute, sagt er, koste ein Kanister Olivenöl in Gaza nur etwa 100 Schekel – weil die Qualität so schlecht sei. Nur zwei Ölmühlen gebe es überhaupt noch in dem ganzen Küstenstreifen. „Ich sage das mit Trauer“, betont er, „aber die Qualität der übrigen Oliven ist wirklich gering.“ Nur etwa 100 Olivenbäume, sagt er, gebe es noch in ganz al-Qarara. Der Rest sei vernichtet worden.
Es sei nicht das erste Mal, dass er und seine Familie wieder ganz von vorn beginnen müssen, erzählt er. Die Olivenbäume hat er von seinem Vater übernommen. Seit 1962, betont er, kultiviere seine Familie das Land. Mit dem Krieg 1967 wurde der Anbau zerstört, sagt er. „Meine Vorfahren haben alles wieder aufgebaut, wieder Bäume angepflanzt.“ Auch danach, erzählt er, sei sein Land immer wieder betroffen gewesen vom sich wieder und wieder in Gewalt entladenden Krieg zwischen Israel und palästinensischen Militanten. Immer wieder Einschläge, Zerstörung, Neuanfang.
Nun sagt er trotzig: „Wir werden alles wieder aufbauen, solange wir leben, und noch besser, als es war.“ Er wolle die „stillen Tage“, die der Gazastreifen während der halbwegs funktionieren Waffenruhe derzeit erlebe, nutzen, um mit dem Aufbau zu beginnen. Auch wenn die Gelbe Linie und damit das israelische Militär so nah sind, dass er manchmal Schüsse hören könne.
Ein gesegneter Baum
Auch Tahseen al-Abadla möchte wieder aufbauen – allerdings erst mal sein eigenes Zuhause, das Leben seiner Familie. Für einen Wiederaufbau seiner kleinen Olivenfarm hat er kein Geld: „Landwirtschaft ist zu einem Luxus geworden, die Kosten nicht mehr reinzuholen.“ Irgendwann, sagt er, wolle er wieder Bauer in Teilzeit werden, „aber nicht mehr so wie früher“.
Er habe Hoffnung gehabt, als er nach Beginn der Waffenruhe endlich auf sein Land zurückkehrte. Doch die Zerstötung sei größer gewesen, als erwartet. „Meine Frau und ich waren schockiert, genauso wie unser Nachbar“, sagt er. Und bevor er wirklich über den Wiederaufbau seiner Landwirtschaft nachdenken könne, müsse sowieso die Waffenruhe halten.
Tahseen al-Abadla, Olivenbauer
„Israel verletzt alle internationalen Abkommen“, meint Ayesh Muslih. „Was andere Staaten sagen, ist ihnen egal, sogar wenn es die USA sind.“ An einen dauerhaften Frieden mag er noch nicht glauben.
Er hat nun begonnen, abgetrennte Äste und Holzstücke seiner Bäume einzusammeln. Er will sie als Feuerholz nutzen, sie einem Zweck zuführen. „Der Olivenbaum ist ein gesegneter Baum, er wird sogar im Koran erwähnt“, sagt er. „Und er ist ein Symbol für Resilienz: Selbst nach den schwierigsten Bedingungen wird der Baum einmal wieder Früchte tragen.“
Auch al-Abadla sagt: Der Olivenbaum sei ein Symbol: der Verwurzelung der Palästinenser auf ihrem Land, ihrer Identität – und ihres Überlebens.
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