An der Welt zweifeln: Zwei Geschichten vom Menschen
Optimismus ist schwer. Aber immer, wenn unsere Kolumnistin den Glauben an die Menschheit beinahe verliert, passiert doch wieder etwas ganz Wunderbares.
D as ist meine letzte Kolumne in diesem Jahr und mir fällt es schwer, optimistisch zu bleiben. Aus persönlichen Gründen, aber auch aus gesellschaftlichen Gründen. Menschen sind so schwierig. So anstrengend, so böse. Aber auch so liebevoll und gut.
Zwei Geschichten, die ich in der letzten Zeit erlebt habe, Geschichten aus der Großstadt: Ich sitze morgens im Bus, neben mir sitzt eine junge Frau. Sie telefoniert, die Freundin ist auf ihrem riesigen Handydisplay zu sehen und vor allem zu hören. Ich sehe weg, zur Seite, aber weghören kann ich nicht, ich sitze neben ihr.
Die Freundin erzählt, wie sehr sie gekotzt hat. So voll im Strahl hat sie gekotzt, das kam so richtig rausgespritzt. Ich will das nicht noch mehr ausführen, aber sie hat das getan, sie hat das ausgeführt, sie geht richtig ins Detail, lange, viel zu lange spricht sie darüber, ausführlich, ausdauernd.
Der ganze Bus ist gezwungen mitzuhören, denn das Handy ist auf lauteste Lautstärke gestellt und ich überlege, ob ich ihr jetzt sage, dass ich von dieser Sache nichts wissen will. Dass alle Menschen hier in diesem Bus ihre eigenen Probleme haben und dieses Telefonat eine Belästigung darstellt.
Es ist nicht lustig
Ich überlege mir aber auch andere, witzige Sätze, infolgedessen ich mich frage, ob diese Sache nicht eine lustige Sache ist, eine Anekdote, die ich erzählen kann, was ich hier ja gerade tue. Aber auch jetzt, da ich das schreibe, denke ich, nein, es ist nicht lustig. Ich denke, dass Menschen noch aus ganz anderen Gründen kotzen müssen und dass sie nicht daran erinnert werden wollen, wenn sie im vollen Bus stehend zur Arbeit fahren.
„Fährst du zur Arbeit?“, fragt schließlich die Freundin auf dem Handydisplay.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Ne, keine Lust, hab mich krankgemeldet, ist mir zu kalt“, antwortete die junge Frau und da werfe ich einen kurzen Blick auf sie und sie sieht so aus, wie viele junge Frauen aussehen. Lange glatte Haare, zu viel Make-up. Und ich kriege ein sehr negatives Gefühl für diese Frau, die uns alle belästigt hat und die jetzt nicht arbeiten will, weil es ihr zu kalt ist.
Und ich denke, „Stopp!“ Denn ich will nicht so denken, nicht so empfinden, nicht, wenn es um solche Belanglosigkeiten geht. Ich weiß nichts über sie, weiß nichts über ihre Arbeit. Vielleicht arbeitet sie draußen, wo es wirklich kalt ist, wird ausgebeutet, ich weiß es nicht.
Andere Geschichte: Samstags stehen hier auf dem Platz ein Arztmobil und eine Suppenküche für die Obdachlosen. Sie werden medizinisch versorgt und können Suppe essen. Vor ein paar Wochen gab es Kohlsuppe, der ganze Platz roch danach. Eine Frau steht an der Ecke unter dem Vorsprung eines Ladens, denn es regnet. Vor ihr steht ein Mann.
Die Frau löffelt Kohlsuppe
Die Frau löffelt die Kohlsuppe aus einem Plastikschälchen, und gerade als ich an ihr vorbeigehe, sagt sie mit einer solchen ernsthaften Überzeugung zu dem Mann, „Du weißt gar nicht, was du verpasst“, dass mir Tränen in die Augen schießen. Auf so etwas ist man einfach nicht vorbereitet, dass einen solche Gefühle treffen, während man auf der Stresemannstraße zum Rewe läuft.
Da steht diese Frau, einen Meter von mir entfernt, während es regnet, während es kalt ist, löffelt im Stehen Kohlsuppe aus einer kleinen Plastikschüssel und scheint so dankbar, geradezu glücklich zu sein, jedenfalls für diesen Moment. Du weißt gar nicht, was du verpasst. Das ist der Satz, der mir geblieben ist. Den ich die ganze Zeit denke. Ich will es wissen.
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