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Freiwillige HilfestellungenDie dunkle Seite des Ehrenamts

Alle Jahre wieder kommt der Appell, sich unentgeltlich für den Nächsten einzusetzen. Das Armutszeugnis eines perfiden Gesellschaftsentwurfs?

Illustration: Katja Gendikova

D er Staat, unsere Gesellschaft gibt jedes Jahr hunderte von Milliarden Euro aus, nimmt astronomische Kredite auf – unter anderem für Autobahnen, Zugverkehr, Waffenproduktion, künstliche Intelligenz, Experimente im Weltraum, Förderung der Unterhaltungs- und Videospielindustrie und vieles Wunderbare mehr. Aber um jedem Mitbürger die Teilnahme an einem würdigen Leben zu garantieren, dafür sind die Kassen knapp, dafür haben wir kein Geld.

So appellieren unsere Staatsoberhäupter im Gewand der Moralapostel zu jedem Weihnachtsfest, zu jedem Jahreswechsel, man solle sich doch unentgeltlich für den Nächsten einsetzen – um Notlagen abzufedern. Hallo, geht’s noch? Die ehrenamtliche Arbeit, vor allem im sozialen Bereich, das heißt, der unentgeltliche freiwillige Einsatz, die nicht monetär entlohnte Leistung des Einzelnen für „einen guten Zweck“ steht in unserer Gesellschaft moralisch besonders hoch im Kurs – und das ist auch gut so! Aber worum geht es dabei wirklich?

Deutschland ist ein Land des Ehrenamts. Fast 30 Millionen Deutsche, 40 Prozent der über 14-Jährigen, engagieren sich freiwillig, davon rund 2,6 Millionen Menschen allein im sozialen Bereich. Die offiziellen Zahlen sind aber nur die halbe Wahrheit, denn nicht erfasst sind all die Menschen, die unentgeltlich sozial engagiert, aber nicht offiziell in Vereinen oder Initiativen registriert sind. Das können Nachbarschaftshilfe, informelle Unterstützung von älteren oder kranken Menschen, private Obdachlosenhilfe, Nachhilfe, ehrenamtliche Begleitung und anderes sein.

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Schätzungen legen nahe, dass die Dunkelziffer bei ehrenamtlich im sozialen Bereich engagierten Menschen bis zu 50 Prozent über den offiziellen Zahlen liegen könnte, das wären über 5 Millionen sozial engagierte Freiwillige. Diese Menschen setzen sich für andere ein, retten Leben, kümmern sich dort, wo der Staat wegschaut. Wie sähe Deutschland ohne Ehrenamt aus? Geflüchtete hätten es schwerer, sich im Land zurechtzufinden, Bedürftige müssten häufiger hungern, Obdachlose hätten weniger Zufluchtsorte, alte Menschen wären einsamer, vielen Kindern würde niemals vorgelesen.

Bild: ANOMARIIA
Albert T. Lieberg

ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Senior Advisor der UNO und Buchautor: „Endbericht“ (2024) und „Der Systemwechsel“ (2018).

Würde es brennen, käme in vielen kleineren Orten wohl niemand zum Löschen. Nach einem Hochwasser wären die Betroffenen noch mehr auf sich allein gestellt. In erster Linie geht es darum, Menschen in prekären oder Notsituationen zu helfen. Wer durch das soziale Netz fällt, wer den Anschluss an unsere Leistungsgesellschaft verloren oder nie geschafft hat, ist besonders auf Unterstützung angewiesen: Obdachlose, Mittellose, Opfer von Gewalt und Stigmatisierung, Menschen mit schwerem körperlichen und/oder psychischen Leiden, die es allein nicht schaffen, das Mindestmaß eines würdigen Lebens zu erreichen.

Jemand da zum Löschen?

Diese Hilfebedürftigen stehen am Rande der Gesellschaft, sind oft nicht gemeldet, erscheinen in keinen offiziellen Statistiken und führen meist ein Leben in sozialer Ausgrenzung. Immer mehr Menschen gehören dazu, und das sind nicht nur die „Verlierer“ unserer Spaß- und Wettbewerbsgesellschaft; nicht nur die sogenannten Wirtschafts-, Klima- und Kriegsflüchtlinge. Immer öfter trifft es Leute aus jenen Wohnungen, jenen Stadtvierteln nicht weit von uns, die irgendwie auch so aussehen wie wir, die abrutschen in die Mittellosigkeit, Depression, in die Einsamkeit – in aller Stille, ohne sich irgendwo festhalten zu können.

Die steigende Tendenz sozialer Missstände in Deutschland über die letzten zehn Jahre spricht Bände, überall gehen die Zahlen nach oben – Wohnungs- und Obdachlosigkeit, Armutsgefährdung, prekäre Beschäftigung, Depressionen und Vereinsamung. Mit dem evidenten, aber unausgesprochenen Hinweis, selbst nicht die nötigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellen zu können, appelliert der Staat an das Mitgefühl der Bürger und Bürgerinnen – mit inbegriffen sind Zeit, körperliche und psychische Leistung und persönliche Geldmittel –, sich doch auch um diese Missstände ein bisschen zu kümmern – selbstverständlich gratis.

Der genaue finanzielle Wert des Ehrenamts für den Staat lässt sich nicht beziffern, denn unbezahlte Tätigkeiten werden bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) grundsätzlich nicht berücksichtigt. Ohne Zweifel ist er enorm. Ehrenamtliches Engagement ersetzt Leistungen, die andernfalls auch von bezahlten Fachkräften erbracht werden müssten. Damit werden dem Staat immense Kosten erspart – vor allem im sozialen Sektor, aber auch in Bereichen wie Bildung, Sport und Kultur.

77 Milliarden spart der Staat

Eine grobe Schätzung lässt die tatsächliche Dimension erkennbar werden: Davon ausgehend, dass jeder und jede der 30 Millionen Freiwilligen durchschnittlich pro Jahr ehrenamtlich 200 Arbeitsstunden leistet, was eher niedrig ansetzt, und die sich ergebende Gesamtzahl mit dem aktuell geltenden Mindestlohn in Höhe von 12,82 Euro multipliziert wird, dann erhält man einen volkswirtschaftlichen Wert dieser Arbeitsleistung von 77 Milliarden Euro.

Und hier ist die Dunkelziffer der nicht offiziellen, nicht registrierten ehrenamtlich Engagierten noch nicht einmal mitgerechnet. Insgesamt dürfte der tatsächliche Wert der ehrenamtlich geleisteten Arbeit eher im Bereich von jährlich mindestens 100 Milliarden Euro liegen. Das ist mehr als zwei der größten Posten des Staatshaushalts – der Verteidigungsetats, der im laufenden Jahr (das Sondervermögen nicht mitgerechnet) bei 62 Milliarden Euro lag, oder der Etat für Verkehrsinfrastruktur mit 38 Milliarden Euro.

Wenn man sich diese Zahlen vergegenwärtigt, wird klar, warum Präsident und Kanzler uns jedes Jahr darum anbetteln, jene Kosten des Ehrenamts zu übernehmen, schließlich sind andere Dinge doch viel wichtiger für den Staat und für uns, oder nicht? Aber Moment mal, wie wäre das eigentlich, wenn der Staat diese, sagen wir mal 100 Milliarden Euro im Rahmen einer hypothetischen „ideologischen“ Haushaltsreform tatsächlich für die Gesellschaftsbereiche des heutigen Ehrenamts einplanen würde?

Wenn Frank-Walter Steinmeier und Friedrich Merz am Jahresende in einer feierlichen gemeinsamen Fernsehansprache uns Bundesbürger bitten würden, entsprechend für die Finanzierung des Wehretats oder für die Verkehrsinfrastruktur zu spenden? Es steht außer Frage, dass die persönliche Solidarität mit den Schwächeren und Nächstenliebe zu den höchsten moralischen Werten gehören, die es in einer solidarischen Gesellschaft geben kann. Und es ist richtig und gut, wenn sich jeder von uns entsprechend einbringen würde.

Neue Prioritäten setzen

Doch hier geht es gesellschaftspolitisch um etwas anderes. Denn es sind ja gerade unsere Wirtschafts- und Sozialsysteme, es sind die Konsequenzen unserer eben auch so gewollten Wettbewerbs- und profitorientierten Leistungsgesellschaft, es ist der allgegenwärtige Materialismus und Individualismus, welche eben diese Missstände hervorbringen, welche verantwortlich sind für finanzielle Not, soziale Ausgrenzung, körperliches und seelisches Leid vieler Menschen – ja, eben auch in einer Demokratie, wie der unsrigen.

Ist es da moralisch akzeptabel, dass wir, dass sich der von uns gewählte und finanzierte Staat beziehungsweise die Regierung aus der Verantwortung stiehlt; dass man nicht die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, nicht zur Verfügung stellen will, um eben auch diesen „unproduktiven“ Menschen ein würdiges Leben als anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft zu garantieren?

Nicht anders verhält es sich mit den Aufrufen zum Spenden im Falle von Katastrophen und Missständen weltweit, wenn Klimaextreme, Kriege, Gewalt Menschen ins Elend katapultieren. In Deutschland wurden 2024 insgesamt 12,5 Mrd. Euro für gemeinnützige Zwecke gespendet. Etwa ein Viertel davon ging an die Sofort- und Nothilfe in Kriegs- und Katastrophengebieten. Der Staat dagegen brachte für Letzteres mit 1,6 Milliarden Euro im vergangenen Jahr gerade einmal die Hälfte auf den Weg.

Auch hier sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein moderner reicher Staat, ein Staat, der zweifelsohne auf der Gewinnerseite der Geschichte dieses Planeten steht, unmittelbar Verantwortung übernimmt und handelt anstatt mithilfe pathetischer Spendenaufrufe die Verantwortung teilweise an die Bürger abzuschieben. Geld hat der deutsche Staat genug, um sich auch in diesem Bereich entsprechend seines wirtschaftlichen Gewichtes international solidarisch einzubringen.

Der persönliche Einsatz als Ehrenamtliche lindert zwar bis zu einem gewissen Punkt die Negativsymptome unseres kapitalistischen Gesellschaftsmodells, doch begünstigt und subventioniert er damit auch ein System, das auf Einkommensdisparitäten und Ungleichverteilung beruht. Ziel muss es hingegen sein, unsere Gesellschaftsstrukturen so zu verändern, unsere moralischen Prioritäten dahingehend neu aufzustellen, dass der Staat – den in einer funktionierenden Demokratie wir, die Bürger repräsentieren – selbst entsprechend ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellt.

Damit wir jeden Mitmenschen bedingungslos mitnehmen und stützen können. Es muss darauf hingearbeitet werden, dass sich materielle Notlagen und prekäre soziale Missstände in einer zukünftigen Gesellschaft gar nicht erst entwickeln können. Das ist möglich und keine Utopie – man muss nur die Prioritäten ändern. Aber wollen wir das?

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