75 Jahre UNHCR: „Verantwortung darf nicht ausgelagert werden“
Die UN-Flüchtlingsorganisation wurde 1950 gegründet. Die Vertreterin für Deutschland spricht über die Krise des Flüchtlingsschutzes und was zu tun ist.
taz: Frau Thote, Sie haben das Amt der UNHCR-Vertreterin für Deutschland im Februar in turbulenten Zeiten übernommen. Die USA und Deutschland haben ihre Beiträge an UNHCR massiv gekürzt, Sie mussten bereits Personal entlassen, Millionen Menschen wird vermutlich bald nicht mehr geholfen werden können. Wie tief steckt UNHCR tatsächlich in der Krise?
Katharina Thote: Finanziell ist das die schwierigste Situation in der 75-jährigen Geschichte des UNHCR. Unser jährliches Bedarfsbudget war historisch meist zu etwa 50 bis 60 Prozent finanziert. Für 2026 gehen wir von 33 Prozent aus. Wir haben ausgerechnet, dass wir schon in diesem Jahr rund 11 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen weltweit weniger Unterstützung geben können, als eigentlich geplant war.
taz: Was bedeutet das konkret?
Thote: Das kommt auf das Land an. In Afghanistan etwa haben wir Rückkehrer bislang mit 2.000 Dollar pro Familie unterstützt, jetzt sind es nur noch 20 Dollar pro Person. Im Sudan mussten Schutzzentren für Frauen und Überlebende sexualisierter Gewalt schließen. Teilweise werden Zentren für von Unterernährung bedrohte Kinder geschlossen. Auch bei der Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen wurde extrem gekürzt. Ich war vor Kurzem in einem Camp im Tschad: Dort gibt es teilweise einen Arzt für 50.000 Patientinnen und Patienten. Die hatten vor Kurzem einen Choleraausbruch, was man dort bislang eigentlich gar nicht kannte. Das liegt an zu wenig Wasser, Medikamenten und Latrinen. Dabei sind weit über 100 Menschen gestorben – so etwas ist komplett vermeidbar.
taz: Müssten Sie dann nicht an anderer Stelle, etwa bei Bildungsmaßnahmen, sparen, um wenigstens lebensrettende Hilfen zu sichern?
Thote: Ja, das ist ja auch schon viel passiert. Bildungs- und Zukunftsprogramme wurden stark zurückgefahren. Aber wenn man sich ausschließlich auf kurzfristige Nothilfe beschränkt, zerstört man den Übergang zu langfristigen Lösungen. Dieses Abwägen zwischen akuter Hilfe und nachhaltigem Aufbau ist eines der größten Dilemmata unserer Arbeit. Wir versuchen jetzt, andere Finanzierungsquellen zu erschließen und setzen verstärkt auf private Spender. Der Anteil der USA, lange der größte Geber, der nun auf etwa ein Drittel gekürzt wurde, lässt sich nicht einfach durch Einsparungen ausgleichen.
taz: In welchen Weltregionen sind Menschen derzeit besonders auf UNHCR-Hilfe angewiesen?
Thote: Die größten Vertreibungskrisen betreffen fünf Länder: Sudan, Syrien, die Ukraine, Afghanistan und Venezuela. Im Sudan sehen wir derzeit die dramatischste Situation: extrem eingeschränkten humanitären Zugang, massive Unterfinanzierung und wenig internationale Aufmerksamkeit. In Syrien gibt es trotz aller Fragilität erstmals wieder Chancen auf freiwillige Rückkehr.
taz: Sind darunter auch Menschen, die vor Hunger, Armut oder der Klimakrise fliehen?
Thote: Nein. Die Flüchtlingsdefinition umfasst Menschen, die vor Krieg, schweren Menschenrechtsverletzungen oder Verfolgung fliehen. Armut und Klimawandel verschärfen Fluchtsituationen zwar und erschweren Rückkehr, gelten aber nicht als eigenständige Fluchtgründe. Menschen, die aus diesen Gründen fliehen, werden nicht bei den derzeit 117 Millionen Flüchtlingen mitgezählt.
taz: UNHCR wird am Sonntag 75 Jahre alt, zugleich ist die Zahl der Geflüchteten im Vergleich zum historischen Höchststand von 122 Millionen im Vorjahr leicht gesunken. Ist das auch ein bisschen ein Grund zum Feiern?
Thote: Es ist natürlich immer ein Grund zur Hoffnung, wenn Flüchtlinge oder Binnenvertriebene wieder Perspektiven sehen, zurückzukehren und das sicher und freiwillig tun können. Momente, in denen etwa Friedensabkommen geschlossen werden, sind immer Höhepunkte unserer Geschichte. Aber Rückkehr ist nur dann nachhaltig, wenn die Bedingungen vor Ort stimmen, damit die Menschen sich wieder eine Existenz aufbauen können – sonst folgt die nächste Flucht.
taz: Weltweit scheint derzeit aber eher wenig Interesse zu bestehen, solche Bedingungen zu schaffen. Die EU setzt auf Abschiebungen und Externalisierung. Verkennen die Geberländer ihre Verantwortung?
Thote: Wir verstehen die Schwierigkeiten, mit denen die Europäische Union und andere Staaten konfrontiert sind. Wenn Asylsysteme überlastet sind, müssen Maßnahmen ergriffen werden, damit sie funktionsfähig bleiben. Gleichzeitig müssen diese Maßnahmen sicherstellen, dass Menschen mit einem Schutzanspruch diesen auch geltend machen können. Wer ein Land als sicheres Herkunftsland einstuft, muss sich bewusst sein, dass es nicht unbedingt für alle Menschen sicher ist. Es kann individuelle Gründe für Verfolgung geben. Das Recht auf Asyl ist daher nach wie vor unentbehrlich und häufig lebensrettend.
taz: Aber wenn wir konkret über Abschiebungen in überlastete Drittstaaten sprechen – schafft man damit nicht das nächste Problem vor Ort?
Thote: Eigentlich ja. Externalisierung darf nicht dazu führen, dass Drittstaaten allein gelassen werden. Die meisten Flüchtlinge bleiben in Nachbarländern, oft in Staaten mit deutlich geringerem Wohlstand. Deshalb braucht es einen routenbasierten Ansatz, der Schutz- und Aufnahmekapazitäten entlang der gesamten Fluchtroute stärkt – in Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeländern –, statt nur am Ende abzuschotten. Ergänzend können sichere Zugangswege wie Resettlement, Arbeitsmigration oder Bildungsprogramme dazu beitragen, dass sich weniger Menschen auf gefährliche Fluchtwege begeben. Das kann jedoch Asyl an der Grenze nicht ersetzen.
taz: Wie wird sich die Lage für Geflüchtete in nächster Zeit entwickeln? Was braucht es, um eine weitere Eskalation zu vermeiden?
Thote: Deutschland und Europa müssen verstehen, dass humanitäre Hilfe ein zentraler Stabilitäts- und Sicherheitsfaktor ist. Es geht nicht immer nur um Verteidigung und Waffen. Wer von Konfliktregionen umgeben ist, handelt strategisch unklug, wenn er humanitäre Hilfe massiv zurückfährt. Es ist eine spektakulär unsichere Zeit für Gesellschaften und für jeden Einzelnen. Doch es gibt viele positive Entwicklungen, etwa in Syrien, und die müssen wir wieder ins Rampenlicht stellen. Das Allerwichtigste ist, Konflikte zu beenden.
taz: Und wenn das nicht passiert?
Thote: Dann werden wir noch viel drastischere Bilder sehen als die, die wir dieses Jahr schon gesehen haben.
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