Verkehrspolitik: Das E-Auto, die Treuhand der Gegenwart
Verkehrspolitik ist eine Domäne von Technokraten und erzeugt Frust. Sie sollte Gegenstand demokratischer Aushandlungsprozesse werden.
S ie stehen in vielen Städten sinnbildlich für Streit um jeden Quadratmeter: abgetrennte Fahrradspuren, abgesenkte Bordsteine, Poller, Parklets, also Stadtmöbel. Wo früher Autos standen, sollen heute Menschen auf Paletten sitzen, wo bis vor Kurzem Autos parkten, sollen Kinder spielen. Dass Parklets nicht selten zu Müllhalden verkommen, ist dabei nur ein Detail in einem größeren Diskurs: Für die einen sind die Änderungen im Straßenbild ein sichtbares Zeichen für lebendige Stadtpolitik, für die anderen der Beweis, dass „die da oben“ Autofahrern Schritt für Schritt den Alltag schwer machen.
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Trotzdem gilt Verkehrspolitik dabei bisher eher als etwas Technisches: etwas für Ingenieur:innen, Verkehrsplaner, kommunale Dezernent:innen. Tatsächlich berührt sie aber Grundfragen von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand. Deutschland ist Transitland, Exportökonomie und über Jahrzehnte nicht nur im Verkehr, sondern auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt Autoland. Der Mittelstand ist auf verlässliche Logistik angewiesen, Millionen Menschen pendeln täglich zur Arbeit. Kaum ein Politikfeld greift so direkt in Routinen und Lebensentwürfe ein – und eignet sich damit so sehr als Bühne für Populismus.
Unsere erste These lautet in diesem Zusammenhang: Verkehrspolitik ist überladen mit Symbolik. Ökonomisch lassen sich viele Fragen nüchtern beschreiben: Lärm, Staus und Emissionen sind negative externe Effekte, Fehlinvestitionen wirken über Jahrzehnte nach. Politisch wird daraus ein Kulturkampf. Parklets und Pop-up-Radwege stehen nicht nur für eine andere Flächenaufteilung, sondern für das Gefühl, dass eine urbane Minderheit nicht nur Lebensrealität, sondern auch die Lebensleistung vieler Bürger abwertet. Das „Verbrennerverbot“ scheint in manchen Kreisen ähnliche Ohnmachtsgefühle auszulösen, wie es vielen Ostdeutschen im Zuge der wirtschaftlichen Umbrüche in der Nachwendezeit widerfuhr. So wie zuweilen auf Kritik an der DDR allergische Reaktionen folgen, scheint es auch im Mobilitätssektor zu funktionieren: E-Fahrzeuge als „Treuhand“ der 2020er Jahre.
Zweite These: Psychologie und Anreizstrukturen verzerren, wie wir Verkehrspolitik wahrnehmen. Die Forschung zeigt, dass sichtbare, alltagsnahe Themen politische Entscheidungen von Wählern überproportional prägen. Wer täglich im Stau steht oder mit dem Rad an der vierten Baustellenampel wartet, macht Verkehrspolitik eher zur Wahlentscheidung, auch wenn Klimaschutz, Löhne oder soziale Sicherung objektiv wichtiger wären. Zugleich wechseln Menschen ständig die Rolle: mal Autofahrer, mal Fußgänger, mal ÖPNV-Nutzer, mal Elternteil mit Kinderwagen. In jeder Rolle werden andere Kosten und Zumutungen erlebt, und jede Seite neigt dazu, das eigene Verhalten zu idealisieren und die anderen zu problematisieren.
Aufseiten der Politik wirken ähnliche Verzerrungen. Kommunalpolitiker tragen für Fehlentscheidungen im Verkehr selten unmittelbare Verantwortung. Anders als die Kioskbetreiberin, die ohne Kundenparkplatz schnell Umsatzeinbrüche spürt, erleben sie die ökonomischen Folgen schlecht gesetzter Anreize nur indirekt. Zuständigkeiten sind zwischen Kommune, Land, Bund und Verkehrsbetrieben zersplittert, Förderprogramme sind kompliziert, Legislaturperioden vergleichsweise kurz. Das begünstigt symbolische Politik: lieber ein sichtbares Projekt mit schöner Pressemitteilung als das mühsame Feilen an Tarifen, Taktungen und Baustellenmanagement.
Und zuletzt kollidieren bei vielen städtebaulichen Maßnahmen oft kurzfristige Änderungen der Verwaltung mit langfristigen Konsumentscheidungen der Bürger:innen: Wer sich für ein Auto entscheidet, um zur Arbeit zu kommen, tätigt eine Investition für viele Jahre. Fallen dann die Parkplätze vor dem eigenen Wohnblock weg, wird die Kaufentscheidung zu einem Problem. Umgekehrt ist es ähnlich: Schafft man das Auto ab, um sich voll und ganz auf den ÖPNV zu verlassen, und wird dann die Taktung ausgedünnt, wird aus der Verkehrswende schnell Verdruss. Was für Politiker:innen und Planer wie ein kleiner Eingriff wirkt, kann Bürger:innen nachhaltig frustrieren und für populistische Scheinlösungen öffnen.
Unsere dritte These lautet deshalb: Verkehrspolitik sollte ein Prärogativ, also ein Vorrecht, demokratischer Aushandlung sein. Gerade weil es um knappen Raum, reale Zeitverluste und Verteilungskämpfe geht, taugt sie nicht für technokratische Abkürzungen. Expertengremien und Gerichte können helfen, Fakten zu sortieren und Rechte zu schützen. Doch die Entscheidung, wie viel Platz Autos, Fahrräder, Lieferverkehr und Aufenthaltsqualität bekommen, lässt sich nicht „objektiv“ berechnen. Sie muss transparent und streitbar politisch getroffen werden und die Langfristigkeit und (Ir)reversibilität individueller Konsumentscheidungen mitdenken.
Eine liberale Demokratie darf diesen Konflikten nicht ausweichen. Sie muss offenlegen, welche Zielkonflikte es gibt, welche Gruppen gewinnen, welche verlieren und aushandeln, welche Kompromisse wem zumutbar sind. Dazu gehören Verfahren, in denen Betroffene nicht nur informiert, sondern tatsächlich beteiligt werden: vor Ort, konkret, mit Einblick in Zahlen und Nebenwirkungen. Verkehrspolitik entscheidet über mehr als Haltestellen, Fahrpläne und Stellplätze. Sie entscheidet darüber, ob Bürger den Eindruck haben, dass ihre Lebensentwürfe von der Politik gesehen und respektiert werden. Wo dies tatsächlich passiert, sinkt die Versuchung, in Parklets oder D-Tickets nur den nächsten Beweis für Bevormundung zu sehen. Wo er fehlt, werden selbst kleine Maßnahmen zur Projektionsfläche tief sitzenden Frusts und Katalysatoren für Populismusoffenheit.
Gerade deshalb liegt in der Verkehrspolitik unterschätztes Potenzial für die Demokratie: Sie zwingt uns, über Freiheit, Verantwortung und Fairness nicht abstrakt zu streiten, sondern dort, wo es buchstäblich eng wird: auf der Fahrbahn, auf dem Radweg, am Bahnsteig. Wie wir diesen Streit organisieren, sagt am Ende mehr über den Zustand unserer Demokratie aus als die Frage, ob am Ende ein Parklet oder ein Parkplatz steht.
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