Rückblick auf taz-Recherchen 2025: Was danach geschah
Regelmäßig deckt die taz mit Recherchen Missstände auf und stößt damit Veränderungen an. Doch wie ging es nach den Veröffentlichungen 2025 weiter?
Inhaltsverzeichnis
- Neonazi-Gruppe offiziell unter Beobachtung
- Wie ein 16-Jähriger in Sachsen-Anhalt die Demokratie verteidigt
- Wie wir den Mann aufspürten, der die taz gehackt hat
- Erntearbeiter*innen gewinnen vor Gericht
- Der Tote nach dem Polizeieinsatz
- Wie ein Lügendetektor Kindesmissbrauch deckte
- Eingesperrt in der Tripperburg
- Die Masche von Heimstaden
- Aus Teenagern werden Terroristen
- Auf Knastbesuch bei der Antifa
D ieses Jahr berichtete die taz über ein Sonnenwendfest von Neonazis, über die fiese Masche eines Immobilienkonzerns und über einen Missbrauchsskandal, der viel zu lange unentdeckt blieb. Was wurde aus den Fällen?
Neonazi-Gruppe offiziell unter Beobachtung
Als sie ihr meterhohes Feuer entzündeten, hätten die Neonazis wohl lieber unbeobachtet bleiben wollen. Ganze Familien hatten sich am letzten Juniwochenende mit Zelten, Fackeln und Schwertern nach Tschechien aufgemacht. Dort, in dem kleinen Ort Višňová, richteten rund 80 überwiegend deutsche Neonazis ihr Lager auf, um die Sommersonnenwende zu zelebrieren. Doch wie bereits im Jahr zuvor im sächsischen Strahwalde war die taz auch in diesem Sommer dabei, konnte das völkische Treiben fotografieren und filmen. Und: Was unsere Reporter dokumentierten, sollte diesmal Folgen haben.
Feiern dieses Zusammenhangs sind kein harmloses Brauchtum. Sie dienen der Vernetzung und Radikalisierung im Geiste völkischer Ideologie. Es soll ein starkes Gemeinschaftsgefühl entstehen, das von rassistischen Ideen durchdrungen ist. Bei Fackeltanz und Feuerritualen wurde in Višňová auf das „germanische Volk“ geschworen und ein „Heil der deutschen Jugend“ ausgerufen. Auch Lieder des Nationalsozialismus wurden gesungen.
Mit dabei waren Ingenieure, Lokalpolitiker, Architekten und Zahnärzte. Darunter: Stephan Jurisch, Bundesvorsitzender der rechtsextremen Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland, ebenso wie der Sozialpädagoge Robert Thieme, der 2024 auf der Liste der AfD für den Stadtrat von Zittau kandidierte. Wie sich erst nach der taz-Veröffentlichung herausstellte: Auch Mitglieder der tschechischen Neonazi-Band Reichenberg waren vor Ort. Organisiert wurde das völkische Treffen von einem Zusammenschluss namens Kulturwerk Oberlausitz, der abgeschottet und konspirativ agiert.
Nach der Veröffentlichung der taz stufte der Sächsische Verfassungsschutz die Truppe als Beobachtungsobjekt im Bereich des „Neonationalsozialismus“ ein. Als vermeintlich „traditionsverbundener“ Veranstalter verfolge das Kulturwerk Oberlausitz das Ziel, in die gesellschaftliche Mitte hineinzuwirken und seine verfassungsfeindliche Ideologie niedrigschwellig und subtil zu vermitteln, erklärte die Behörde. Die Veranstaltungen dienten „der Erziehung von Kindern und Jugendlichen im Geiste völkisch-rassistischer Weltbilder und der Verfestigung völkischer Ideologien bei Erwachsenen“.
Rund 80 deutsche Neonazis feiern in Tschechien Sonnenwende, singen Hitlerjugend-Lieder und beschwören das „germanische Volk“. Auch AfD-nahe Politiker sind dabei.
Von Jean-Philipp Baeck, Johannes Grunert und Nils Lenthe
Wie ein 16-Jähriger in Sachsen-Anhalt die Demokratie verteidigt
Im April hat sich der 16-jährige Schüler Max in seiner Heimatstadt Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt vor eine Gruppe rechter Querdenker:innen gestellt und eine Gegenrede gehalten. Das Video davon ging auf Social Media viral, über eine halbe Million Menschen sahen seine Rede. Die taz besuchte ihn und begleitete ihn zum Seifenkistenbauen im Jugendtreff
Wochentaz: Max, was ist seit deinem Post, der dir so viel Aufmerksamkeit verschafft hat, passiert?
Max: Ich habe im Juni den Jugendengagementpreis Sachsen-Anhalt gewonnen. Der erste Preis in meinem Leben. Die Woche darauf habe ich meinen erweiterten Realschulabschluss in der Hand gehabt. Die Deutschprüfung habe ich mit einer Zwei bestanden, knapp an der Eins vorbei.
Wochentaz: Herzlichen Glückwunsch!
Max: Aber das war nicht der einzige Preis für mein Engagement in diesem Jahr. Insgesamt habe ich vier Preise gewonnen.
Wochentaz: Dein Aktivismus wird also gesehen und wertgeschätzt.
Max: Manchmal frage ich mich, ob ich das überhaupt alles verdient habe. Es gibt ganz viele andere, die dasselbe machen wie ich – laut sein gegen Rechtsextremismus.
Wochentaz: Nach dem Video hast du online aber auch in deiner Heimstadt Hass abbekommen. Hat das angehalten?
Max: Ich habe um die zehn Anzeigen in diesem Jahr gemacht, weil ich Drohungen erhalten habe, auch Morddrohungen. Die Öffentlichkeit ist auch ein Fluch.
Wochentaz: Trotzdem machst du weiter. Was hat dich dieses Jahr ermutigt?
Max: Ich war im Sommer auf vielen CSDs unterwegs. Es gab zwar immer noch Gegendemonstrationen von rechts, aber in Halle waren zum Beispiel viel weniger Gegendemonstranten als letztes Jahr da. Das hat mich überrascht.
Wochentaz: 2026 gibt es für dich wahrscheinlich nur ein Thema: Im September sind Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt.
Max: Ich will am 7. September nicht in einem Bundesland aufwachen, in dem die AfD die absolute Mehrheit geholt hat. Gerade würden hier 40 Prozent die AfD wählen. Das macht mir enorm große Sorgen, da hängt meine Zukunft dran. Was ich mir wünsche, ist, dass Politikerinnen und Politiker von Parteien wie Union und SPD aufhören, diese bescheuerten Narrative von rechts außen zu übernehmen, weil sie meinen, dass sie mit ein bisschen AfD-Sprache mehr Prozente erhalten. So dämlich kann man gar nicht sein, einen Rechtsdruck mit einem Rechtsruck bekämpfen zu wollen.
Wochentaz: Und was wünschst du dir als 16-Jähriger? Du darfst neben deinem Aktivismus ja auch noch jugendlich sein.
Max: Momentan ist das gar nicht so leicht. Mir geht es um unsere Demokratie. Ich würde mir wünschen, dass es endlich ein AfD-Verbotsverfahren gibt.
Bei einer Querdenken-Demo hält der 16-jährige Max dem Publikum eine Standpauke – und geht viral. Er erntet Zuspruch, aber auch Hass und Drohungen.
Von Sophie Fichtner
Wie wir den Mann aufspürten, der die taz gehackt hat
Am 23. Februar 2025 wurde in Deutschland ein neues Parlament gewählt. Für eine Zeitungsredaktion wie unsere ist so ein Tag einer der wichtigsten des Jahres. Ausgerechnet an diesem Tag gelang es einem Hacker, unsere Webseite lahmzulegen. Leser*innen, die sich über taz.de informieren wollten, bekamen über zwei Stunden am Nachmittag nur eine Fehlermeldung.
Im April haben wir recherchiert, woher diese Attacke kam. Wir haben Serverprotokolle ausgewertet und stießen auf Botschaften, die die Angreifer dort für uns hinterlassen hatten: „Hano hates you“ stand da, „Hano hasst euch“. Wir kennen den Angreifer aus früheren Recherchen. Wir wussten, dieser Hano hatte bereits unabhängige Medien in Ungarn attackiert, auch das International Press Institute in Wien. Damit wussten wir schnell mehr als die Berliner Polizei, die nach dem Hackerangriff zwar Ermittlungen aufnahm, diese aber nach wenigen Wochen ergebnislos der Staatsanwaltschaft übergab, die das Verfahren einstellte.
Die ungarische Polizei war erfolgreicher: Anfang Juli nahm sie in Budapest einen 23-Jährigen Mann fest, den sie für „Hano“ hält. Seine Wohnung wurde durchsucht, mehrere Geräte wurden beschlagnahmt. Darauf habe man „eindeutige Beweise für die Begehung der Straftaten“ gefunden, erklärte die Polizei. Die Budapester Staatsanwaltschaft ermittelt seitdem.
Die Festnahme in Budapest hat auch die Berliner Behörden wieder in Schwung gebracht. Die Ermittlungen wurden wieder aufgenommen und laufen noch, wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft auf taz-Anfrage schreibt. Details könnten derzeit nicht genannt werden, nur so viel: Die Berliner Polizei stehe in Kontakt mit den Kollegen aus Ungarn. Die Berliner Polizei schreibt auf taz-Anfrage allerdings, der Sachverhalt liege weiter bei der Staatsanwaltschaft, die entsprechende Akte sei noch nicht an das zuständige Fachkommissariat zurückübersandt. Das war bis zur Festnahme nicht der Fall.
Am Tag der Bundestagswahl legt ein Cyberangriff taz.de lahm. Es ist nicht der erste dieser Art. Warum das kein Zufall ist.
Von Anne Fromm, Jean-Philipp Baeck und Pierre Dinh van
Erntearbeiter*innen gewinnen vor Gericht
Als Levani Idadze, Jemal Chachanidze und 21 weitere Arbeiter*innen im Sommer 2021 von Georgien nach Deutschland aufbrachen, um Erdbeeren zu pflücken, hätten Sie nicht gedacht, dass sie mehr als vier Jahre später immer noch auf einen großen Teil ihres Lohns warten würden. Die Gruppe kam auf Grundlage eines Abkommens zwischen Deutschland und Georgien, Saisonarbeit in der Landwirtschaft, maximal 5.000 Menschen pro Jahr, deutscher Mindestlohn. Doch alles kam anders. Nach wenigen Wochen verließen die Arbeiter*innen den Erdbeerhof am Bodensee, auf dem es zu wenig Arbeit gab und entsprechend viel weniger Lohn. In Niedersachsen, wo ein Großteil der Gruppe bei einem kleinen Landwirt weiterarbeitete, wurden sie gar nicht bezahlt. Idadze beendete seinen Aufenthalt bei dem Betrieb mit einem Streik am Hoftor.
Über mehr als vier Jahre nutzten die Erntearbeiter*innen alle Mittel des Rechtstaats, um ihren Lohn doch noch zu bekommen. Sie verklagtem die beiden Landwirt*innen in Deutschland und die zuständige Behörde in Georgien, sie machten noch in Deutschland über soziale Medien und das georgische Fernsehen auf ihre prekäre Situation aufmerksam und lösten damit eine wochenlange Debatte in Georgien aus.
Im Herbst 2025 haben Chachanidze, Idadze und die anderen endlich Gerechtigkeit erfahren. Nachdem das Verfahren gegen den Landwirt vom Bodensee mit einem mageren Vergleich und ohne Schuldeingeständnis endete, hat ein Gericht in Niedersachsen offiziell anerkannt, dass ihnen beim zweiten Landwirt Unrecht widerfahren ist. Das Arbeitsgericht Oldenburg sprach ihnen bereits im Dezember 2024 den vollen geforderten Lohn zu, doch der Landwirt ging in Berufung. Kurz vor dem Gerichtstermin in Hannover im Oktober 2025 zog er die Berufung zurück. Damit ist das Urteil aus Oldenburg rechtskräftig.
„Das war so eine schöne Nachricht“, sagt Idadze. Er habe Freund*innen eingeladen und gefeiert. Nun aber stellt sich die Frage: Werden die Arbeiter*innen auch ihr Geld bekommen? Schon beim Termin in Oldenburg erklärte der Anwalt des Landwirts, dass der Bauer hohe Schulden habe und kurz vor der Insolvenz stehe. Doch Idadze glaubt das nicht. „Wir haben vor Ort gesehen, dass er Eigentum hat, Häuser, Felder, Betriebsmittel“, sagt er. „Der Landwirt hat uns einfach ausgenutzt, um mehr Geld zu verdienen.“
Seit drei Jahren kämpft Levani Idadze um den Lohn für seine Arbeit auf deutschen Erdbeerfeldern. Er zog dafür vor Gericht – und hofft nun auf Gerechtigkeit.
Von Jonas Seufert
Der Tote nach dem Polizeieinsatz
Manche Recherchen beschäftigen uns über Jahre. Nicht durchgehend, aber es kommt vor, dass nach langer Zeit doch noch ein entscheidender Hinweis auftaucht. Oder dass plötzlich jemand reden will, der bislang geschwiegen hat. So wie im Fall des toten Vitali Novacov.
Vitali Novacov war ein 45-jähriger Bauarbeiter aus Moldawien. Er starb bei einem Polizeieinsatz im April 2023 in Königs Wusterhausen bei Berlin. Kurz vor seinem Tod soll er randaliert haben. Die Polizei wurde gerufen und brachte Novacov in einem langen Kampf, zusammen mit zwei Anwohnern, zu Boden. Dort liegend verlor Novacov das Bewusstsein, dann setzte sein Herz aus.
Novacov ist wohl erstickt, „infolge massiver Gewalteinwirkungen“, wie seine Ärzte damals notiert haben. Unsere Recherchen hatten den Verdacht der Ärzte öffentlich gemacht und Widersprüche im Vorgehen der Polizei aufgedeckt. Wer hat Schuld an diesem Tod?
Die Staatsanwaltschaft Cottbus nahm Ermittlungen auf gegen die zwei Polizisten und die beiden Anwohner. Im Sommer diesen Jahres stellte sie die Ermittlungen erst ergebnislos ein – und hat sie nun wieder aufgenommen. So etwas ist ungewöhnlich. Ein neuer Aspekt sei aufgetaucht, sagt der zuständige Staatsanwalt auf taz-Anfrage. Welcher, das könne er nicht sagen.
Vielleicht ist es derselbe, der auch uns erreicht hat: Mike T. will reden. Zum ersten Mal. T. war ein Nachbar von Novacov. In der Nacht, in der Novacov starb, hat T. den Polizisten geholfen, den Mann festzunehmen. T. war dabei, als Novacov aufgehört hat zu atmen. Bisher hat er mit niemandem offiziell gesprochen: nicht mit den Behörden, nicht mit der taz. Jetzt will er erzählen, wie der Abend wirklich verlaufen ist – und er will sich selbst entlasten.
Er ist nervös, als er die taz-Kantine vor ein paar Monaten betritt. Der Fall lasse ihn bis heute nicht los, sagt T. Seine Hände zittern, er sucht nach Worten. Zu dem Zeitpunkt, als wir ihn zum Gespräch treffen, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn, nicht mehr wegen Totschlags, aber immer noch wegen Körperverletzung. Er soll Novacov ins Gesicht geschlagen haben, als der schon am Boden lag.
Mike T. belastet die Polizei: Nicht er habe Novacov geschlagen, sondern einer der Polizisten. Die Polizei sei überfordert gewesen. Novacov habe sich kaum zu Boden bringen lassen, es habe die Hilfe von ihm, Mike T., und einem weiteren Nachbarn gebraucht. Mike T. erzählt, dass er schon vor der Festnahme mit Novacov aneinandergeraten sei, weil der die Ehefrau von T. belästigt haben soll.
Nach taz-Informationen hatten die beiden Polizisten die Festnahme anders geschildert: Demnach sei es Mike T. gewesen, der mit der Faust auf den am Boden liegenden Vitali Novakov eingeschlagen haben soll. Egal von wem der Schlag kam: Tödlich war er nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht.
Welche Version stimmt nun? Das lässt sich mit taz-Recherchen kaum überprüfen. Schon damals wollte keine:r der Anwohner:innen mit uns sprechen. Auch Mike T. kann keine Belege liefern. Ein Video, das er in der Nacht aufgenommen hatte, habe er gelöscht, sagt er.
Die Staatsanwaltschaft wird Mike T. nun vernehmen, auch den zweiten Nachbarn möchte sie anhören. Mit einer Entscheidung sei Anfang nächsten Jahres zu rechnen, sagt deren Sprecher.
Im April 2023 starb Vitali Novacov nach einem Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen. Trotz Ungereimtheiten wurde das Verfahren gegen die Beamten eingestellt.
Von Sophie Fichtner
Wie ein Lügendetektor Kindesmissbrauch deckte
Der Fall von Jenny Arndt und ihren Geschwistern dürfte einer der größten Missbrauchsskandale sein, den Sachsen je erlebt hat. Über einen Zeitraum von mindestens zwanzig Jahren hat Henry Schreibe, der Vater von Jenny Arndt, 9 seiner 16 Kinder missbraucht und zum Teil brutal vergewaltigt. Und das, obwohl Lehrerinnen, Verwandte, Polizisten, das Jugendamt und die Staatsanwaltschaft mehrmals versucht haben, einzuschreiten.
Sie konnten Henry Schreibe auch deswegen nichts anhaben, weil sie sich zum Teil auf ein Gerät verlassen haben, das höchst umstritten ist: einen Lügendetektor. Henry Schreibe hatte einen solchen Test in einem Gerichtsprozess im Jahr 2018 absolviert und dabei seine Unschuld beteuert. Zu Unrecht, wie heute klar ist. Lügendetektoren sind vor deutschen Gerichten eine Ausnahme, ihre Verlässlichkeit ist wissenschaftlich nicht bewiesen. Dennoch führen einige Gerichte diese Tests durch. Der Fall von Jenny Arndt und ihren Geschwistern zeigt, welche katastrophalen Auswirkungen ein falsches Testergebnis haben kann.
Im Mai hatten wir über den Fall von Jenny Arndt berichtet. Arndt ist das älteste Kind von Henry Schreibe und war wohl sein erstes Opfer. Beide heißen eigentlich anders. Seit Anfang des Jahres stand Henry Schreibe in Chemnitz vor Gericht. Dieses Mal hat er gleich zu Beginn alle Vorwürfe eingeräumt. Er hat gestanden, seine Kinder über Jahre missbraucht zu haben. Das Landgericht Chemnitz verurteilte ihn dafür zu zehn Jahren und sechs Monaten Gefängnis, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Schreibe ging in Revision, aber der Bundesgerichtshof wies die Revision im August ab. Damit ist klar: Henry Schreibe wird nie wieder freikommen.
Für Jenny Arndt und ihre Geschwister ist das eine große Erleichterung. Der Prozess habe sie viel Kraft gekostet, sagt sie heute, ein knappes Jahr nach dem Prozess. Ihre Familie komme trotzdem nicht zur Ruhe. Immerhin eine Therapeutin habe sie gefunden, die helfe ihr sehr auf ihrem Weg der Heilung, sagt Arndt.
Nach dem Urteil gegen Henry Schreibe haben wir Gerichte, die bereits mit Lügendetektoren gearbeitet haben, gefragt, ob sie Konsequenzen ziehen aus dem massiven Versagen dieses Tests und seiner Gutachterin in Chemnitz. Eine Richterin, die nicht namentlich genannt werden möchte, nannte den Fall gegenüber der taz eine „Katastrophe“. Festlegen will sich kein Gericht, es gilt die richterliche Unabhängigkeit in Deutschland. Aber, auch das klingt aus den Telefonaten heraus: Viele Gerichte haben mittlerweile Abstand genommen von Lügendetektortests. Auch das Landgericht Chemnitz sagt nach dem Urteil, der Test werde bei ihnen nicht mehr eingesetzt.
Ein Vater missbraucht 9 seiner Kinder. Trotz Ermittlungen passiert lange nichts: auch, weil ihn ein Lügendetektor entlastet. Nun gibt es ein Urteil.
Von Anne Fromm und Sabine Seifert
Eingesperrt in der Tripperburg
Dieses Kapitel der DDR-Geschichte ist wenig bekannt, und es handelt von Gewalt, die sich speziell gegen Frauen und Mädchen richtete. Viele wurden unter dem Verdacht, sie könnten sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen haben, in Hautkliniken zwangseingewiesen und landeten wie die Ostberlinerin Martina Blankenfeld in einer Spezialabteilung, der geschlossenen Venerologischen Station. Blankenfeld war 15 Jahre alt, als sie ins Klinikum Berlin-Buch, Station 114 c eingewiesen wurde. Anschließend verbrachte sie mehrere Jahre in einem Jugendwerkhof.
Im Juni berichtete die taz über Blankenfelds Engagement für eine Gedenkstele auf dem Gelände des ehemaligen Klinikums Buch. Bei der Gedenktafelkommission des Bezirks Berlin-Pankow, wozu der Stadtteil Buch heute gehört, trug sie ihr Projekt vor – und im Februar dieses Jahres wurde der Antrag angenommen. Bis ein Gedenkort konzipiert und fertiggestellt ist, dauert es oft Jahre. Im Fall des Klinikums Buch, das nach seiner Schließung in ein Wohnquartier mit Eigentumswohnungen umgewandelt wurde, aber Denkmalschutz genießt, müssen Genehmigungen eingeholt werden. Die im Auftrag der Wohneigentümerversammlung agierende Wohnungsverwaltung habe bislang leider „nicht für das Anliegen zur Schaffung eines Gedenkzeichens am Gebäude der ehemaligen geschlossenen Venerologischen Station entschieden“, bedauert Bernt Roder, Leiter der Gedenktafelkommission. Man hoffe, dass „in nächster Zeit eine Reaktion erfolgt“.
Immerhin hat es im November eine Ortsbegehung mit Zeitzeuginnen und Interessierten gegeben. Sie gehörte ins Begleitprogramm einer Ausstellung, die sich dem Thema der Spezialheime und Spezialabteilungen der Hautkliniken widmet: „Einweisungsgrund: Herumtreiberei“ lautet der Titel.
Zur Eröffnung kam Evelyn Zupke, die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur. Sie dankte besonders Martina Blankenfeld für ihr Engagement und kündigte für Frühjahr 2026 ein Hearing im Bundestag zum Thema an. Bei Blankenfeld meldete sich außerdem eine Frau, die ebenfalls in die Station 114 c der Hautklinik Buch zwangseingewiesen wurde. So steht sie in Berlin nicht mehr allein da mit ihrer Geschichte und ihrer Initiative.
In sogenannten Tripperburgen wurden in der DDR Tausende junge Frauen eingesperrt und diszipliniert – auch Martina Blankenfeld. Sie kämpft für ein Gedenken.
Von Sabine Seifert
Die Masche von Heimstaden
Laut Mietspiegel sollte Martin Berger um die 7 Euro pro Quadratmeter für seine Mietwohnung im Berliner Stadtteil Wedding zahlen. Aber sein Vermieter, der skandinavische Immobilienkonzern Heimstaden, verlangt fast 17 Euro. Der Grund: Die Wohnung soll vor dem Einzug umfassend modernisiert worden sein.
Doch danach sieht sie gar nicht aus. Eine taz-Recherche im November zeigte, dass das, was Martin Berger erlebt hat, wohl eine Masche ist, die viele Heimstaden-Mieter*innen trifft. Heimstaden gibt vor, Wohnungen umfassend zu modernisieren, verlangt hohe Mieten und umgeht so die Mietpreisbremse.
In Bergers Wohnung wurde das Bad neu gefliest, eine neue Einbauküche montiert, in den Zimmern wurde Vinylboden in Holzoptik verlegt. Aber die Fenster sind alt, unter den Türen zieht die Kälte durch, der Energieausweis des Hauses ist schlecht. Diese Punkte sprechen gegen eine umfassende Modernisierung, deren hohe Anforderungen laut Expert:innen in Altbauhäusern kaum zu erreichen sind.
Dem Immobilienkonzern hilft der angespannte Wohnungsmarkt. Wer einmal eine Wohnung ergattert hat, verklagt seinen Vermieter nicht so schnell. Martin Berger ist einer der wenigen, der gegen seine überhöhte Miete vorgeht. Viele Mieter:innen würden ihre Rechte nicht kennen und hätten Sorge, ihre Wohnung zu verlieren, wenn sie sich wehren, sagt Mietrechtsanwältin Carola Handwerg. Nach der Veröffentlichung der taz-Recherche meldeten sich mehrere Menschen bei ihr, die ebenfalls in sehr teuren, angeblich modernisierten Wohnungen leben und nun gegen ihre Vermieter vorgehen wollen. Ob Martin Bergers Miete gesenkt wird, ist noch offen.
Der Immobilienkonzern Heimstaden verlangt horrende Mieten und gibt vor, Wohnungen umfassend modernisiert zu haben. taz-Recherchen belegen anderes.
Von Yasemin Said und Sophie Fichtner
Aus Teenagern werden Terroristen
Am Ende blieb für die Betreiberfamilie des „Kultberg“ nur ein Entschluss – sie verließ Altdöbern. In der Nacht des 23. Oktober 2024 hatten Unbekannte in der Brandenburger Kleinstadt das Kulturhaus angezündet, das die Familie über Jahre aufgebaut hatte. Das Gebäude brannte komplett nieder, ein Sachschaden von 550.000 Euro. Das einzige Glück für das Betreiberpaar, das mit seinem kleinen Kind im selben Gebäudekomplex schlief: Es wurde durch den Brandgeruch wach und entkam rechtzeitig den Flammen.
Erst Monate später wurde klar, wer hinter der Tat steckt: Rechtsextreme, und zwar sehr junge. Eine Gruppe namens „Letzte Verteidigungswelle“ (LVW), fast alle Teenager, erst seit wenigen Monaten aktiv. Die taz hatte Anfang April, neben der Welt, als Erste über die Gruppe berichtet. Sieben Wochen später ließ die Bundesanwaltschaft fünf Mitglieder festnehmen – darunter die beiden beschuldigten Brandstifter des Kultbergs, zwei 15-Jährige aus Altdöbern. Drei weitere Beschuldigte saßen da bereits in Haft.
Eine RTL-Journalistin hatte sich zuvor in die Neonazigruppe eingeschleust und der Polizei ein Video überlassen, in dem sich einer der Jugendlichen zu der Brandstiftung bekannte. Die taz fuhr nach Altdöbern – und stieß auf eine Gemeinde, die sich wegduckte. Nach dem Brand blieb die Verwaltung still, das Betreiberpaar des Kultbergs rief selbst zu einer Mahnwache auf, auch zur Erinnerung an die 100 Jahre Kulturbetrieb in dem Haus und zum Dank an die Rettungskräfte. Am Ende kündigte die Gemeinde gar den Pachtvertrag für die Betreiber. Dabei hatten diese eigentlich einen Wiederaufbau und Weiterbetrieb geplant, was ihnen anfangs auch in Aussicht gestellt wurde. Schließlich verließ die Familie die Gemeinde. „Ohne den Willen der Verwaltung für einen Wiederaufbau und Zwischenbetrieb des Kultbergs hatten wir vor Ort keine Perspektive mehr“, erzählt das Paar der taz.
Und die Letzte Verteidigungswelle war nicht allein: Ab 2024 bildeten sich gleich mehrere neue Gruppen sehr junger Rechtsextremer, die auch in diesem Jahr mit Aufmärschen und mit Störaktionen von CSDs auffielen. Die LVW klagte die Bundesanwaltschaft nun als terroristische Vereinigung an, den Brandanschlag in Altdöbern als versuchten Mord. Im Frühjahr soll der Prozess vor dem Oberlandesgericht Hamburg beginnen. Ob öffentlich oder nichtöffentlich verhandelt wird, ist wegen des jungen Alters der Angeklagten noch offen.
Der Kultberg in Altdöbern ist derweil weiter eine Ruine, die Gemeinde steht nun ohne Kulturhaus da – worunter vor allem lokale Vereine leiden. Die Karnevalisten mussten zuletzt in einem Zelt feiern, anderes fiel aus. Ein Wiederaufbau könnte noch Jahre dauern, wie viel Geld die Versicherung zahlt, ist unklar. Die Gemeinde prüft nun die Reaktivierung des alten Schlossensembles im Ort. Aber auch das würde langwierig. Den Jungnazis ist damit vor allem eines gelungen: Sie haben einen Ort zerstört, der lokale Kultur und damit auch Heimatverbundenheit erschuf – angeblich eines ihrer Kernanliegen.
In Altdöbern und Wismar werden drei Teenager festgenommen. Sie sollen Anführer einer Rechtsterrorgruppe sein. Wie konnten sie sich so radikalisieren?
Von Konrad Litschko
Auf Knastbesuch bei der Antifa
Maja T. sitzt noch immer hinter ungarischen Gittern, im Gefängnis in Budapest, in einer Zelle zwei mal drei Meter, das vergitterte Fenster durch eine Plexiglasscheibe abgedunkelt. Seit anderthalb Jahren schon – nach einer Auslieferung, die das Bundesverfassungsgericht nachträglich für rechtswidrig erklärte. Maja T. übermittelte der taz zuletzt einen Ausspruch Antonio Gramscis zur eigenen Lage: Solange man den eigenen Glauben und die Sitten bewahre, sei nichts verloren. Man werde Entscheidungen bereuen, ergänzte die nonbinäre Aktivist*in aus Jena. „Aber nicht, dass es einen Tag gab, an dem wir noch eine hatten. Kurz vor Weihnachten kam T.s Vater zu Besuch. Die Stimmung seines Kindes sei angespannt und bedrückt gewesen, erzählte er der taz. Denn am 22. Januar soll nun vor dem Budapester Stadtgericht das Urteil gegen Maja T. fallen – das nach dem Willen der Staatsanwaltschaft bis zu 24 Jahre Haft bedeuten kann.
Und Maja T. ist nicht allein. Bereits im September wurde in München die Nürnberger Antifaschistin Hanna S. zu fünf Jahren Haft verurteilt. In Dresden begann im November ein Großprozess gegen sieben Antifaschist*innen, in Düsseldorf wird ein zweiter am 13. Januar gegen sechs Linke beginnen. Die hiesige Antifa-Szene steht damit unter Druck wie lange nicht, seit Jahren gab es nicht so viele Inhaftierte.
Der Vorwurf, der allen Beschuldigten gemacht wird: Sie sollen schwere Angriffe auf Rechtsextreme verübt haben, in Ostdeutschland und Budapest, wo sich Neonazis alljährlich zu einer NS-Folklore treffen. Die Bundesanwaltschaft erhebt in einigen Fällen den Vorwurf des versuchten Mordes. Die taz hatte im vergangenen Jahr die Prozesse vor Ort beobachtet und vier beschuldigte Antifaschist*innen im Gefängnis besucht: Zaid A., Thomas J., Tobias E. – und auch Maja T. in einem ungarischen Haftkrankenhaus nach einem 40-tägigen Hungerstreik, als erstes und bisher einziges Medium. Maja T. wirkte dort erschöpft, aber nicht gebrochen – und beklagte, von der deutschen Regierung alleingelassen zu werden.
Das Auswärtige Amt erklärte, sich für bessere Haftbedingungen einzusetzen. Eine Rückabholung von Maja T. sei aber erst nach einem Urteil möglich. Ungarn sagte bereits zu, dass eine Haftverbüßung in Deutschland möglich ist. Ob und wie eine dann verhängte Haftstrafe reduziert werden kann, wird aber noch mal ein juristisches Tauziehen werden. Welche Strafen den in Dresden angeklagten Antifas drohen, wird noch länger unklar bleiben: Die Prozesse sind bereits jetzt bis ins Jahr 2027 angesetzt.
Seit über einem Jahr sitzt Maja T., Antifaschist*in aus Thüringen, in ungarischer Haft. Es drohen 24 Jahre Gefängnis. Wie geht es Maja T.?
Von Konrad Litschko
Gemeinsam für freie Presse
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