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Expertin rät zu intuitivem Essen„Weihnachten ist das Fest des diet talks“

Zu viel über das eigene Essverhalten nachzudenken, schadet nur, sagt Nora Stankewitz. Ein Gespräch über Hüttenkäse, Doppelmoral und das schlechte Gewissen an den Festtagen.

Isst Intuitiv: Die Autorin Nora Stankewitz Foto: Anja Müller

Interview von

Laura Catoni

taz: Ich hatte heute zum Frühstück Obst und zwei Scheiben Vollkornbrot mit Hüttenkäse und Honig. Zu Mittag gab’s mit Käse überbackenen Brokkoli und Kartoffeln, hinterher einen Schokoriegel. Wie intuitiv war das?

Nora Stankewitz: Das kommt darauf an, wie viele Gedanken Sie sich vor, während und nach dem Essen gemacht haben und wie Sie sich währenddessen gefühlt haben. Es gibt Menschen, die sagen sich, sie müssen super gesund essen, also keinen Zucker, nichts Verarbeitetes, nur Vollkorn, keine Nudeln am Abend und so weiter. Und wenn sie das mal nicht getan haben, erleben sie danach wahnsinnige Schuldgefühle. Oder sie essen mehr vom Abendessen, als sie sich vorgenommen hatten, und danach herrscht Weltuntergangsstimmung. Es geht beim intuitiven Essen also vor allem darum, was das Thema Essen in uns auslöst.

Im Interview: Nora Stankewitz

Nora Stankewitz studierte Kulturwissenschaftlerin, arbeitet seit fünf Jahren in Dresden als ausgebildete Systemische Therapeutin und seit drei Jahren zum Thema Intuitive Ernährung. Ihre Qualifikationen erlangte sie bei der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, am Frankfurter Zentrum für Essstörungen und bei den US-Ernährungsberaterinnen Evelyn Tribole und Elyse Resch, die das Konzept des intuitiven Essens entwickelt haben.

taz: Im Internet ist oft von intuitivem Essen die Rede als der Methode, um nachhaltig abzunehmen. Sie sprechen auf Ihrer Website kein einziges Mal vom Abnehmen.

Nora Stankewitz: Darum sollte es auch nicht gehen, sondern darum, den Wunsch abzulegen, einem bestimmten Körperideal entsprechen zu wollen, und stattdessen eine Akzeptanz dem eigenen Essen und dem eigenen Körper gegenüber zu entwickeln, auch wenn man damit vielleicht nicht oder nicht immer zufrieden ist. Aber natürlich bringen viele Frauen den Wunsch, abzunehmen, mit in die Beratung. Deshalb kann ich das Thema auch nicht ausklammern. Mir geht es darum, auch zu hinterfragen, welche Bedürfnisse hinter dem Wunsch nach Gewichtsverlust oder -kontrolle stecken.

taz: Wann verabschiede ich mich vom intuitiven Essen?

Nora Stankewitz: Wenn Gefühle von Druck, Zwang oder Schuld das Essverhalten bestimmen. Das bemerke ich zurzeit häufig bei Müttern. Viele nehmen während der Schwangerschaft zu und sagen danach, sie schaffen es einfach nicht, ihre Kilos wieder loszuwerden. Aber müssen sie das überhaupt? Unsere Gesellschaft propagiert bis heute die Idee, dass eine Frau nach der Geburt ihres Babys genauso aussehen soll wie vorher. Aber das geht nicht. Körper verändern sich.

taz: Wie lässt sich die eigene Intuition schärfen, wenn es ums Essen geht?

Nora Stankewitz: Es geht darum, auf die eigenen Körpersignale zu hören oder diese überhaupt erst einmal wiederzuentdecken, also Hunger, Lust, Sättigung. Viele essen erst etwas, wenn ihr Magen knurrt und ihr Energielevel ganz unten ist. Dabei zeigt sich Hunger schon deutlich früher, durch Unkonzentriertheit, Ungeduld oder Kopfschmerzen. Es geht darum, (wieder) ein Gefühl dafür zu bekommen, was und wie viel der Körper braucht, und ihm das auch zu geben. Ich höre immer wieder Frauen sagen, sie müssten ihren Heißhunger am Abend in den Griff kriegen. Aber dann stellt sich oft heraus, dass sie über den Tag viel zu wenig essen. Das langfristig zu ändern, ist für viele wiederum mit der Angst vorm Zunehmen verbunden.

taz: Wie sind Sie zu dem Thema intuitives Essen gekommen und welche Rolle spielte dabei Ihr Aufwachsen in den 1990ern und 2000ern?

Nora Stankewitz: Ich litt in meiner Jugend an einer Essstörung, die ich dank Therapie relativ gut überwunden habe. Deshalb hat mich vor allem meine eigene Betroffenheit zu dem Thema geführt. Sicher hätte ich die Essstörung auch ohne die Trends meiner Jugend entwickelt. Aber rückblickend finde ich es erschreckend, was uns damals in Fernsehen und Werbung präsentiert, welche Körperbilder propagiert wurden. Das war ja die Zeit von Kate Moss, Size Zero und den ersten Staffeln von Germany’s Next Topmodel. Es gibt immer Leute, die sagen, allein durch solche Formate und Trends entwickelt man keine Essstörung. Das stimmt. Aber wenn die Resilienz sowieso schon angeknackst ist, wenn man gerade eine Veränderung im Leben durchmacht, deren Bewältigung einem schwerfällt, dann können solche Trends am Ende ausschlaggebend sein. Weil Körper leider einfach wunderbare Orte sind, an denen wir unseren Wunsch nach Kontrolle ausleben können. Auch weil wir in einer Gesellschaft leben, die diese Kontrolle mit Komplimenten und Status belohnt.

taz: Warum sprechen Sie in Ihren Angeboten explizit Frauen an?

Nora Stankewitz: Weil wir bis heute in patriarchalen Strukturen leben, in denen Frauen vermittelt bekommen, dass sie möglichst attraktiv zu sein und möglichst wenig Raum einzunehmen haben, sowohl mit ihrem Körper als auch mit ihren Bedürfnissen. Dabei geht es darum, männlichen Ansprüchen zu genügen und die männliche Dominanz aufrechtzuerhalten. Diese permanente Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper kostet Frauen so viel Zeit und Energie, die ihnen dann für andere, vielleicht wichtigere Kämpfe fehlt. Deshalb geht es beim intuitiven Essen für mich auch um Emanzipation.

taz: Inwiefern?

Nora Stankewitz: Wenn es eine Frau schafft, endlich Frieden zu schließen mit ihrem Essverhalten, zu sagen, ich schere mich jetzt nicht mehr darum, ob mir die Hose von 1990 noch passt, dann entsteht ein neues Selbstbewusstsein, das auch in andere Lebensbereiche ausstrahlen kann. Nicht wenige fangen dann an zu hinterfragen: Welches Leben führe ich eigentlich? Bin ich überhaupt zufrieden mit der Partnerschaft, die ich aktuell führe?

taz: Weihnachten ist die Zeit von Stollen, Plätzchen und Punsch. Das Internet ist voll mit Tipps, meist adressiert an Frauen, wie die Feiertagskilos danach möglichst schnell wieder verschwinden. Was macht Weihnachten mit unserem Essverhalten?

Nora Stankewitz: Zu keinem anderen Zeitpunkt im Jahr werden wir so viel mit Essen konfrontiert. Das kann für viele Stress bedeuten. Weil sie essen sollen, was ihnen eigentlich nicht schmeckt. Oder weil sie weiter essen sollen, obwohl sie satt sind. Weihnachten ist auch das Fest des Diet Talks, also der Gespräche übers Abnehmen. Es wird kommentiert, was man isst, wie viel man isst, wie der Körper im Vergleich zum letzten Weihnachten aussieht und ob man nicht lieber ein bisschen aufpassen solle. Viele Frauen plagt die Angst über Weihnachten zuzunehmen, manche machen deshalb sogar eine Art Vordiät. Das zeigt, wie gestört unser Verhältnis zu Essen ist. Weil da auch eine Doppelmoral mitschwingt: Während der Feiertage ist es völlig normal, dass wir uns den Bauch vollschlagen. Wer davon aber zunimmt und die Kilos nicht sofort wieder loswird, wird mit Schuld und Scham überschüttet.

taz: Wie können wir uns, wenigstens über die Feiertage, davon befreien?

Nora Stankewitz: Wer wirklich Angst vorm Zunehmen hat, sollte darüber nachdenken, sich professionelle Hilfe zu suchen. Ansonsten würde ich raten, ganz klar Grenzen zu ziehen. Heißt: Nicht schlecht über den eigenen Körper oder den der anderen reden und kontern, wenn andere das tun. Ein Verbot für Diet Talk über die Feiertage, das wäre ein guter Start. Auch um mal zu schauen, worüber man sich in der Familie noch so unterhalten kann.

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1 Kommentar

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  • Intuitiv essen kann doch nur, wer bereits ein gesundes Verhalten zu Essen hat. Wer chronisch über- oder untergwichtig ist, tut gut daran, das eigene Essverhalten zu beobachten und anzupassen. Sich selbst in die Krankheit zu essen ist alles andere als gesund und schon gar nicht feministisch.