Killertourismus im Bosnienkrieg: Zum Spaß vom Hügel auf wehrlose Menschen schießen
Bei der serbischen Belagerung von Sarajevo fielen viele Zivilisten eigens angereisten Scharfschützen zum Opfer. Der taz-Korrespondent erinnert sich.
Jasmina glaubte, sie habe sich verhört. Die Bosnierin hatte sich gerade aus dem belagerten Sarajevo unter großen Gefahren in die serbische Hauptstadt Belgrad durchgeschlagen. Und nun, erzählte sie Ende 1992 der taz, hatte sich hinter ihr im Bus im Zentrum Belgrads ein junger Serbe gebrüstet, er sei am Wochenende in Sarajevo gewesen, um auf Menschen zu schießen. 100 oder ein paar mehr „Deutschmark“ zahlte er dafür.
Der junge Serbe gehörte zu den „Wochenendkriegern“, meist ganz normale Leute wie Bankangestellte oder Lehrer, die im Sommer und Herbst 1992 an die Front in die bosnische Hauptstadt fuhren, um ihr Gewehr auf ebenfalls normale Menschen anzulegen, vor allem Frauen, Kinder und alte Leute. Aus Spaß. Ohne schlechtes Gewissen, eiskalt.
Die meisten Serben sahen sich damals auf Siegeskurs. Nach mehreren Monaten Krieg im ehemaligen Jugoslawien hatten die serbischen Armeen, die per ethnischer Säuberung ein Großserbien schaffen wollten, ein Drittel Kroatiens erobert und über 60 Prozent des Territoriums der Nachbarrepublik Bosnien und Herzegowina.
Die bosnische Hauptstadt Sarajevo war von serbischen Truppen eingekesselt. Über 300.000 Menschen waren täglich dem Hagel aus Artilleriegranaten, Angriffen der Infanterie und dem Feuer der serbischen Scharfschützen auf den Hügeln rund um die Stadt ausgesetzt. Über 13.000 Menschen wurden in Sarajevo getötet, darunter 1.600 Kinder.
Auch Serbiens Präsident Vučić stand vor Sarajevo
Einheimische Journalisten und ausländische Kriegsreporter berichteten zwar über den Beschuss, über die Toten und Verwundeten im Koševo-Krankenhaus und über die UN-Truppen, die dem Treiben lediglich zuschauten. Doch über die Freizeit-Warriors wusste man nur wenig.
Jetzt, eine Generation später, kommen langsam harte Fakten auf den Tisch und belasten die Politik schwer. Serbiens heutiger Präsident Aleksandar Vučić kämpfte nämlich 1992 und 1993 als Kriegsfreiwilliger in Sarajevo. Er war Mitglied einer berüchtigten kriminellen Freiwilligen- und Paramilitärtruppe der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) des Rechtsextremistenführers Vojislav Šešelj. Konkret soll Vučić in der Einheit von Slavko Aleksić gedient haben, später ein hoher Armeekommandeur der bosnisch-serbischen Republika Srpska.
Vučić habe bei der Jagd auf Menschen in Sarajevo mitgemacht, so der Vorwurf des kroatischen Investigativjournalisten Domagoj Margetić, der zahlreiche Zeugenaussagen gesammelt und bei der Staatsanwaltschaft in Mailand eingereicht hat. Er habe vom jüdischen Friedhof aus auf die Stadt geschossen.
Als „Jäger“ aus Italien über Ungarn angereist
Die serbischen Wochenendkrieger blieben nicht lange allein. Ab 1993 wurde das Schießen von den Hügeln auf die Menschen in Sarajevo für viel Geld verkauft. Betuchte westliche Hobbyjäger reisten mit ihren modernen Jagdgewehren aus Italien nach Ungarn. Sie fuhren in Bussen weiter nach Belgrad, von dort aus ging es per Helikopter an die serbischen Stellungen bei Sarajevo, begleitet von Spezialkräften der serbischen Armee. Hier zielten sie nicht mehr auf Tiere, sondern auf Menschen.
Mindestens fünf italienische Staatsbürger aus Mailand, Turin und Triest, so der italienische Investigativjournalist Ezio Gavazzeni, hätten für Wochenendausflüge nach Sarajevo umgerechnet 80.000 bis 100.000 Euro bezahlt, um von den serbisch besetzten Hügeln aus Jagd auf Kinder, Frauen und Männer in den Straßen Sarajevos zu machen. Es wurden Preise ausgelobt: Höchstpreise sollen Schüsse auf Kinder in den Armen ihrer Mütter oder Schwangere gewesen sein, heißt es in einigen Presseberichten.
Der jüdische Friedhof in Sarajevo sei ein zentraler Sammelpunkt für die wohlhabenden Italiener geworden. Der Friedhof, vor allem sein oberer Teil, war berüchtigt als einer der luxuriösesten, begehrtesten und teuersten Orte für die Menschenjagd in Sarajevo.
Nun ist aufgrund dieser Vorwürfe die Staatsanwaltschaft Mailand eingeschaltet und hat Ermittlungen wegen des mehrfachen Mordes aus niedrigen Beweggründen eingeleitet. Sollten die kaum erträglichen „ekelhaften Einzelheiten“ bestätigt werden, sei dies unfassbar, sagt die Ex-Bürgermeisterin Sarajevos, Benjamina Karić, die gemeinsam mit dem Ex-Geheimdienstler Edin Subašić heute Fakten sichern hilft.
Einen Anstoß für die Ermittlungen gab auch der Film „Sarajevo Safari“ des slowenischen Filmemachers Miran Zupanič über die humanitäre Katastrophe der Belagerung von Sarajevo ab 1992. Er zeigt die alltägliche Gefahr, die ständigen Bedrohungen durch die Scharfschützen und die Bombardierungen. Der Sniper-Tourismus wird nicht thematisiert, aber man bekommt ein Gefühl für die ständig lauernde Gewalt, die Zerbrechlichkeit des Lebens im belagerten Sarajevo.
Wie man Scharfschützen zuvorkommt
Es gab auch Gegenwehr. „Anti-Sniper-Sniper“, also Scharfschützen gegen die Scharfschützen, nahmen von der Stadt aus die Angreifer auf den Hügeln ins Visier. Ich stieß 1994, als Arte Kurzfilme über Kriegsreporter in Sarajevo drehen wollte, auf den jungen Sarajevoer Serben Neven. Er begleitete mich, erklärte mir seinen Job und zog mich rechtzeitig vom Fenster an der Ostseite des Hotel Holiday Inn weg, auch der Kameramann, der sich bedrohlich weit aus dem Fenster gelehnt hatte, musste in Deckung gehen.
Er habe schon sieben Scharfschützen ausgeschaltet, erzählte Neven damals: „Wenn du einen Sniper erwischen willst, dann musst du schnell sein. Du kannst das Mündungsfeuer sehen, du musst aber innerhalb von zwei Zehntelsekunden selbst schießen, sonst erwischt er dich und du nicht ihn.“
Mit dem Friedensvertrag von Dayton 1995 endete die Belagerung. Neven musste untertauchen, denn der serbische Geheimdienst suchte ihn und auch die bosniakische Mehrheit im Nachkriegs-Sarajevo traute dem ethnischen Serben nicht. Er könnte sicherlich viele Details über den Kampf gegen die Wochenend-Sniper und die Menschen-Jäger erzählen.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!