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Katharina Raishtaj (2. v. l.) und Önder Çavdar wollen ihren Schü­le­r:in­nen das Gefühl geben, dass man Unrecht nicht hinnehmen muss Foto: Felix Schmitt

Abschiebung in die TürkeiKlassenkampf für Nihat

Ein Junge wird in die Türkei abgeschoben, seine Mit­schü­le­r*in­nen kämpfen für seine Rückkehr. Eine Geschichte über die Hoffnung auf Menschlichkeit.

Sabina Zollner

Aus Stadtallendorf

Sabina Zollner

D as berühmt gewordene sogenannte Stadtbild zeigt sich an diesem Dienstagabend im Dezember in Stadtallendorf von einer eher ungewöhnlichen Seite: Auf einem kleinen Platz vor der Stadthalle in dem mittelhessischen Städtchen haben sich Rentner und Bundeswehrsoldaten zwischen drei weihnachtlich geschmückten Holzbuden versammelt. Das Orchester der Bundeswehr spielt heute sein Adventskonzert. Besonders hell leuchtet die Bude der zehnten Klasse der Georg-Büchner-Schule: Eine lange Lichterkette umrandet den Stand, etwa fünf Schü­le­r:in­nen mit Weihnachtsmützen stehen hinter einer mit Kunstschnee bedeckten Auslage voller Plätzchentüten. Über dem Tresen hängt ein Schild: „Stadtallendorf ist bunt und hält zusammen.“

„Wollen Sie Plätzchen für abgeschobene Kinder?“, ruft Schülerin Malak einer Rentnerin entgegen. Die ältere Dame schaut erst etwas verdutzt, kommt dann aber näher und begutachtet die weihnachtlichen Tüten. Malak erklärt, dass sie Geld sammeln für ihren Mitschüler, der abgeschoben worden sei. Die Dame nickt. Etwas widerwillig greift sie in ihr Portemonnaie, spendet dann aber ein paar Münzen und nimmt eine Tüte mit.

Eine halbe Stunde später sitzt Lehrer Önder Çavdar im Klassenzimmer, wenige hundert Meter von der Stadthalle entfernt. Per Videogespräch in die Türkei redet er mit Nihat, dem Schüler, der abgeschoben wurde. Seit fünf Monaten ist er wieder in seinem Heimatland, arbeitet, statt zur Schule zu gehen. Während seine Mitschüler am Nachmittag Plätzchen backten, hat er Türen und Wände gestrichen. „In Deutschland hatte ich immer keinen Bock auf Schule, aber jetzt würde ich zur Schule rennen“, sagt er in einem bedrückten Ton.

Der 16-jährige Nihat wurde Anfang Juli gemeinsam mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Gamze in die Türkei abgeschoben. Die Familie hat mehr als fünf Jahre in Deutschland gelebt. Die Kinder gingen zur Schule, die Eltern arbeiteten. Es war ihr Zuhause geworden.

Im Abschiebemodus

Mehr Abschiebungen Von Januar bis September wurden 17.651 Menschen zurückgeführt. Im gleichen Vorjahreszeitraum waren es 14.706, also etwa ein Fünftel weniger. Die meisten Menschen (1.614) wurden in die Türkei und nach Georgien (1.379) sowie Serbien (700) abgeschoben, fast jede fünften Person (3.095) war minderjährig.

Geringe Chancen Alle drei Länder gelten als sichere Herkunftsstaaten, weshalb Betroffene nur geringe Chancen auf die Anerkennung eines Schutzstatus haben. Zwar besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf ein Bleiberecht zu stellen, dafür müssen aber verschiedene Voraussetzungen erfüllt werden. So müssen Antragstellende etwa mindestens zwölf Monate in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gearbeitet haben und sie dürfen nicht straffällig geworden sein.

Azubis geduldet Für eine Ausbildung ist einfacher eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen: Sie richtet sich an Geduldete, die eine qualifizierte Berufsausbildung beginnen oder absolvieren. Voraussetzung ist eine anerkannte Ausbildung von mindestens zwei Jahren. Während der Ausbildung besteht ein Schutz vor Abschiebung, und die Duldung ermöglicht es, die Ausbildung ungestört abzuschließen. Nach Abschluss der Ausbildung wird häufig eine Aufenthaltserlaubnis zur beruflichen Tätigkeit erteilt.

Nihats Geschichte ist die einer Politik, die Abschiebezahlen höher bewertet als menschliche Schicksale. Aber sie ist auch die Geschichte einer Klasse, die einen Mitschüler verliert und die gemeinsam mit ihren Leh­re­r:in­nen lernt, nicht aufzugeben, sondern sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren.

Leerstelle: Anstatt weiter zur Schule zu gehen, arbeitet Nihat jetzt als Lackierer in der Türkei Foto: Felix Schmitt

Der Tag, an dem Nihat mit seiner Familie abgeschoben wird, habe sich für ihn angefühlt, wie ein Traum, erzählt er. Um fünf Uhr morgens hätten Polizeibeamte an der Tür geklopft und seien in die Wohnung gestürmt. „Nimm deine Klamotten, ihr werdet abgeschoben“, habe einer der Polizisten zu ihm gesagt.

In Deutschland hatte ich immer keinen Bock auf Schule, aber jetzt würde ich zur Schule rennen

Nihat, per Videogespräch aus der Türkei

Die ältere Schwester, Ayşegül, darf bleiben, da sie eine Ausbildung zur Pflegefachkraft macht. Die Mutter sei direkt von ihrer Arbeit in einer Reinigungsfirma abgeholt worden. Erst als Nihat im Flugzeug sitzt, sei er völlig wach gewesen und ihm sei klar geworden, was gerade passiert. Er muss zurück in eine Heimat, die keine Heimat mehr für ihn ist.

Mit der neuen Bundesregierung kam eine härtere Migrationspolitik. Ausreisepflichtige Personen sollen schneller abgeschoben werden. Und in kein anderes Land wurde dieses Jahr mehr zurückgeführt als in die Türkei. Von Januar bis September waren es bereits rund 1.600 Personen, im gesamten Vorjahr nur 1.086. Dabei treffen die Abschiebungen immer öfter auch Menschen, die schon jahrelang in Deutschland leben. Das bestätigt unter anderem die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Wer aus der Türkei in Deutschland einen Asylantrag stellt, muss in der Regel nachweisen, dass er oder sie politisch verfolgt wird. Wird dieser abgelehnt, können Betroffene einen Antrag auf Bleiberecht stellen, doch die Hürden sind hoch. Etwas einfacher ist die Ausbildungsduldung: Sie wird gezielt gefördert, weil sie den Zugang zu qualifizierten Fachkräften erleichtert.

Die Familie von Nihat kam vor fünf Jahren nach Deutschland, lebte erst in Münden, bevor sie Ende letzten Jahres nach Stadtallendorf umzog. Im Februar 2020 stellten sie einen Asylantrag, der im Mai 2020 abgelehnt wurde. In den letzten Jahren versuchte die Familie immer wieder, rechtlich gegen die Ablehnung vorzugehen.

Im Mai dieses Jahres erhalten sie einen Brief: Ihr Asylantrag ist endgültig abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Vater schon seit einem Jahr einen Job, auch die Mutter fand dieses Jahr eine Anstellung. Ende Juni stellen sie einen Antrag für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Bis zur Abschiebung wird dieser nicht bearbeitet. Später heißt es, es habe ein Zertifikat über den landeskundlichen Test „Leben in Deutschland“ gefehlt. Die Familie sagt, der Vater habe den Test gemacht und nur noch auf ein Ergebnis gewartet.

Anfang Juli hat die Familie einen Termin bei der Ausländerbehörde. Nihats Lehrerin Katharina Raishtaj begleitet sie. Dort wird der Familie empfohlen, freiwillig auszureisen. Der Vater bittet um eine zweiwöchige Bedenkzeit, sie wird nicht gewährt. Sechs Tage später wird die Familie abgeschoben.

Wenige Stunden nach der Abschiebung von Nihat wacht Lehrer Önder Çavdar auf und wirft einen Blick auf seinen Handybildschirm. 17 verpasste Anrufe von seiner Kollegin Raishtaj. Er ruft zurück, erfährt von der Abschiebung. „Wir haben erstmal Rotz und Wasser geheult“, erinnert sich Çavdar. Es sind Sommerferien, die Schulleitung ist schwer zu erreichen. Über Whatsapp informieren sie die Klasse und laden in die Schule ein, um zu erklären, was passiert ist.

Auch Malak erinnert sich noch gut an den Tag. Sie war im Urlaub, als eine Mitschülerin anrief. „Ich war so schockiert, ich konnte nichts machen“, erzählt sie. Sie sitzt an einem Tisch in einem Jugendtreff in Stadtallendorf. In einer ehemaligen Kirche aus Backstein schwirren etwa 20 Jugendlichen in einer Küche und einem großen Gemeinschaftsraum herum. Es duftet nach zart schmelzender Schokolade und warmem Mürbteig. Viele aus Nihats Klasse sind gekommen.

Lehrer Önder Çavdar zeigt ein Foto von einem Schulausflug, da war Nihat noch mit dabei Foto: Felix Schmitt

Im Gemeinschaftsraum sitzen zwei Jungs und verzieren Plätzchen mit weißer Zuckerglasur und bunten Zuckerkugeln. Sie wirken betroffen von Nihats Geschichte, lassen sich aber nur wenige Worte entlocken. „Es war hart, dass er auf einmal einfach so weg war“, sagt einer der beiden. „Einfach traurig, Mann“, ergänzt sein Kumpel mit den blonden Locken. Seit seiner Abschiebung hätten sie noch regelmäßig Kontakt mit ihm. Erst vor ein paar Wochen, sagen die beiden, hätten sie telefoniert.

Es war hart, dass er auf einmal einfach so weg war, sagt ein Mitschüler. „Einfach traurig, Mann“, ergänzt sein Kumpel mit den blonden Locken

Er vermisse seine Klasse sehr, erzählt Nihat am Telefon. Nach der Schule seien sie oft Döner essen gegangen, mit den anderen Jungs habe er regelmäßig Fußball gespielt. „Ich habe mich an Deutschland gewöhnt, in der Türkei kenne ich fast niemanden mehr.“

Nihat ist einer von 249 Minderjährigen, die 2025 in die Türkei abgeschoben wurden. Dass so viele Menschen in das Land zurückgeführt werden, hängt damit zusammen, dass die Türkei dem Innenministerium als sicheres Herkunftsland gilt. Pro Asyl sieht das kritisch, denn das Land ist nicht für alle sicher. Laut der Organisation seien besonders Menschen gefährdet, die sich kritisch zu heiklen Themen äußern, etwa zur Kurdenfrage, zu Korruption, zu Menschenrechtsverletzungen oder generell zur Politik des Präsidenten Recet Tayyip Erdoğan.

Trotz dieser Gefährdungslage: Während im Jahr 2019 noch etwa jede zweite Person aus der Türkei einen Schutzstatus bekam, ist es laut Pro Asyl mittlerweile weniger als je­de*r Zehnte. Für Kur­d:in­nen liegt die Schutzquote laut der NGO sogar bei nur rund 3 Prozent. Sie seien häufig „mit unverhältnismäßigen Anforderungen zum Nachweis ihrer politischen Verfolgung konfrontiert“, zudem werde ihnen oftmals eine Nähe zur in Deutschland als Terrororganisation eingestuften PKK unterstellt. Auch Nihats Familie ist kurdisch.

Nihats Mutter arbeitete als Reinigungskraft, sein Vater als Produktionsmitarbeiter in der Eisengießerei in Stadtallendorf, einem wichtigen Standort für die deutsche Metallproduktion. Ihre Arbeitgeber würden sie wieder einstellen, was sie in zwei Arbeitszeugnissen bekräftigen, die der taz vorliegen. Doch laut der zuständigen Ausländerbehörde sind sie keine Fachkräfte, was eine Rückkehr erschwert. Arbeitskräfte fehlen dennoch, in beiden Branchen. Nihats Eltern würden offensichtlich gebraucht.

Kurt Bunke ist Vorsitzender des Vereins Cölber Arbeitskreis für Flüchtlinge. Er hat der Familie einen Anwalt vermittelt und setzt sich für ihre Rückkehr ein. „Was Nihats Familie erlebt, ist kein Einzelfall“, sagt er. Unter der Vorgängerregierung sei meist nach Wegen gesucht worden, wie gut integrierte Menschen bleiben können, auch bei abgelehnten Asylanträgen. Schwarz-Rot gehe es nur noch darum, möglichst viele Menschen abzuschieben.

In Stadtallendorf ist nicht nur Nihats Familie von Abschiebung betroffen. Auch Sidra ist an diesem Nachmittag in den Jugendtreff gekommen, ein junges Mädchen mit pinkem Pullover, schwarzer Hose und Sneakern. Mit ihrem Smartphone filmt sie ihre Mitschüler, die in einer Ecke die Plätzchen in kleine Weihnachtstüten packen. Dann kommt sie zu den Jungs, die alle in die Kamera winken. Das Video ist für Nihat.

Lehrerin Katharina Raishtaj hat Nihats Familie zur Ausländerbehörde begleitet Foto: Felix Schmitt

Auch Sidra kennt die Angst vor Abschiebung. Vor sieben Jahren wurde sie, die mit ihrer Familie aus dem Irak nach Deutschland geflohen war, bereits einmal nach Rumänien abgeschoben. Dort wurde die Familie erstmals im Asylsystem registriert. Sidra war neun Jahre alt, als sie abgeschoben wurde.

Zwei Jahre später kehrte die Familie nach Deutschland zurück und stellte einen weiteren Asylantrag. Das Verfahren läuft bis heute. Die Eltern arbeiten, Sidra und ihre beiden jüngeren Brüder gehen seit vier Jahren zur Schule. In Deutschland lernte Sidra lesen und schreiben. Ihr älterer Bruder Sidat wollte dieses Jahr eine Ausbildung als medizinisch-technischer Radiologieassistent antreten, er durfte nicht: Seine Duldung wurde zwar verlängert, aber ihm wurde keine weitere Arbeitserlaubnis gewährt.

Als Sidra erfährt, dass ihr Bruder die Ausbildung nicht anfangen darf, bekommt sie mitten im Unterricht eine Panikattacke. Sidras Mitschülerin Alessia sagt, sie habe seit Nihats Abschiebung Angst um ihre Freundin: „Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wo ich sie verstecken könnte.“

Die Schule ist für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung ein wichtiger Ort. Hier kommen sie mit Gleichaltrigen in Kontakt, lernen die Sprache und bauen soziale Netzwerke auf. Für viele ist sie der erste Ort, an dem sie sich sicher und zugehörig fühlen.

„Einen Jugendlichen aus so einem Umfeld zu reißen, ist so, als würde man jemandem seine Existenz rauben“, sagt der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Martin Gött vom Zentrum Überleben in Berlin. Der Integrationsprozess sei für junge Geflüchtete eine enorme Anpassungsleistung. Eine Abschiebung unterbreche diese Entwicklung abrupt und vermittle das Gefühl, nicht gewollt zu sein. Das könne traumatisierend sein, sagt er.

Eine Abschiebung betrifft aber nicht nur den Schüler, sondern die ganze Klasse. „Die Schule wird als nicht mehr sicher wahrgenommen“, sagt Gött.

Von den 23 Schü­le­r:in­nen der zehnten Klasse, in die Nihat ging, haben sehr viele eine Migrationsgeschichte. Die Familien kommen aus der Türkei, dem Irak, Marokko, Algerien, Syrien, Palästina, Italien und Polen. Viele Jugendliche sind von Armut betroffen, haben dramatische Fluchterfahrungen gemacht oder leiden unter psychischen Problemen.

Im Dezember wurde ihre Duldung verlängert- um einen Monat: Sidra droht die Abschiebung nach Rumänien Foto: Felix Schmitt

Bei einer solchen Klasse löst eine Abschiebung zusätzliche Ängste aus, sagt Gött. Es sei zudem ein kollektives Erleben von Ohnmacht: Sie wollen ihrem Mitschüler helfen, wissen aber nicht, wie. Die Klassenlehrer Önder Çavdar und Katharina Raishtaj versuchen, ihre Schü­le­r:in­nen aus dieser Ohnmacht zu befreien. Zwei Demos haben sie in der Innenstadt von Stadtallendorf organisiert, im Herbst sammelten sie Unterschriften für einen Brief an das hessische Kultusministerium. Im Dezember organisierten sie den Stand auf dem Weihnachtsmarkt.

Alessia hielt bei der ersten Demo eine Rede für Nihat, ihre Lehrerin Raishtaj half beim Schreiben. Es war ihre erste politische Kundgebung überhaupt, sie war aufgeregt, zitterte am Mikrofon. „Es war schön zu sehen, dass so viele Menschen hinter einem stehen“, erinnert sich das Mädchen. Rund 200 Menschen gingen für Nihat und seine Familie auf die Straße.

„Es geht darum, den Schü­le­r:in­nen beizubringen, dass sie partizipieren und sich wehren können“, sagt Raishtaj über die Aktionen der letzten Monate. Dass ihre Perspektive zählt, und dass sie in einer Demokratie gehört werden.

Nihat ist seiner Klasse und Lehrern dankbar für ihre Hilfe. Im Gespräch erzählt er von seinem neuen Alltag in Gaziantep, im Südosten der Türkei. Zwölf Stunden arbeite er jetzt pro Tag, er habe versucht, sich in der Türkei in der Schule anzumelden, aber die Schule hätte ihn dort in die achte Klasse gesteckt. Deswegen arbeitet er jetzt lieber und hofft auf eine Rückkehr nach Deutschland.

Mehr als fünf Monate kämpfen Raishtaj und Çavdar nun schon für Nihat. Neben den Aktionen mit der Klasse gründeten sie gemeinsam mit Eltern, Mitgliedern aus dem Stadtparlament und anderen Akteuren aus der Zivilgesellschaft eine Initiative. Sie nahmen Kontakt mit dem Cölber Verein für Geflüchtete auf, der die Familie bis heute unterstützt, indem er etwa die Kosten für den Anwalt zahlt.

Einreisesperre für Nihats Familie

Die größte Hürde ist für die Familie derzeit eine Einreisesperre. Aufgrund der Abschiebung darf sie 30 Monate lang nicht nach Deutschland einreisen. Bei einer Rückkehr müssten sie zudem zwischen 2.000 und 2.500 Euro pro Person für die Abschiebung zahlen, sagt Kurt Bunke. Der Verein sei jedoch bereit, die Summe für die Familie zu zahlen.

„Wollen Sie Plätzchen für abgeschobene Kinder“? NIhats Mit­schü­le­r:in­nen bei ihrer Soli-Back-Aktion auf dem Stadtallendorfer Weihnachtsmarkt Foto: Felix Schmitt

Der Anwalt der Familie stellte einen Antrag zur Aufhebung der Sperre, dieser wurde Anfang Dezember vorerst abgelehnt. Eine Aufhebung würde „den Ausländern signalisieren, dass ein unrechtmäßiger Aufenthalt und die Verletzung der Ausreisepflicht keine Konsequenzen nach sich ziehen würde“, heißt es in einem Schreiben der zuständigen Sachbearbeiterin. Auch das hessische Innenministerium sagte der taz, dass eine Aufhebung nicht geplant sei.

Laut Kurt Bunke vom Cölber Arbeitskreis für Flüchtlinge finden allerdings gerade Gespräche auf lokalpolitischer Ebene statt. „Die Ausländerbehörde des Landkreises, in dem die Familie früher lebte, will nicht, dass sie zurückkehrt. Der Landrat von Marburg-Biedenkopf, also hier in Stadtallendorf, ist aber bereit, die Familie wieder aufzunehmen“, sagt er. Es scheint, als würde es einen Weg zurück für Nihats Familie geben, wenn nur genug politischer Wille da ist.

Auch für Sidras Bruder gab es zwischenzeitlich ein Happy End. Die Stadtverordnetenversammlung und der Kreistag hatten sich für sein Bleiberecht ausgesprochen. Auch für ihn haben die Bür­ge­r:in­nen von Stadtallendorf im Sommer demonstriert.

Nihats Abschiebung hat nicht nur einen leeren Platz hinterlassen, sondern auch eine wütende Klasse. „Ihr sagt doch, man sollte sich integrieren, Ausbildung, Schule, Arbeit machen, dies, das. Wir haben euch alles gegeben, was ihr von uns wolltet. Warum immer noch das?“, sagt Sidra. Und Malak ergänzt trocken: „Seine eigenen Kinder würde Merz ja auch nicht abschieben.“

Nihat in der Türkei klingt eher resigniert als wütend: „Wir haben uns integriert, aber am Ende hat es nicht gereicht.“ Lehrer Önder Çavdar versucht, ihn zu ermutigen. „Du darfst jetzt nicht aufgeben“, sagt er. „Ohne Sie hätte ich längst aufgegeben“, antwortet der Jugendliche.

Für die Leh­re­r:in­nen Katharina Raishtaj und Önder Çavdar geht es in ihrem Kampf für Nihats Rückkehr auch um dieses: Sie wollen ihren Schü­le­r:in­nen das Gefühl geben, dass sie etwas in dieser Gesellschaft bewirken können, dass man empfundenes Unrecht nicht hinnehmen muss. Wenn er nicht zurückkommt, bleibe das Gefühl: Es hilft ja alles doch nichts. Nihats Geschichte zeigt, wie viel in der deutschen Migrationsdebatte auf dem Spiel steht.

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3 Kommentare

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  • So tragisch Einzelschicksale sein mögen – Asyl ist kein Bleiberecht auf Zuruf. Wer nach jahrelangem Verfahren rechtskräftig abgelehnt wurde, kann nicht einfach bleiben, weil Nachbarn, Lehrer oder Aktivisten das emotional fordern. Genau das untergräbt die Glaubwürdigkeit des Asylsystems.

    Die Türkei wird hier pauschal als Unrechtsstaat dargestellt, während gleichzeitig Millionen Menschen dort leben, arbeiten und studieren. Wer ernsthaft behauptet, jede Abschiebung dorthin sei lebensgefährlich, erklärt stillschweigend auch alle türkischen Staatsbürger zu Schutzsuchenden – eine absurde Konsequenz.

    Integration ist wichtig, aber sie ersetzt kein Aufenthaltsrecht. Ein funktionierender Rechtsstaat muss Entscheidungen auch durchsetzen, sonst gilt am Ende nur noch das Lauteste-Demo-Argument. Wer wirklich Solidarität will, sollte für klare, faire Verfahren kämpfen – nicht für emotionale Ausnahmen, die das System insgesamt schwächen.

  • Wie zu erwarten war werden jetzt die gut integrierten Fälle abgeschoben derer man besser habhaft werden kann um die Zahlen aufzuhübschen.



    Insgesamt muss das ganze Verfahren deutlich gestrafft werden. Nach 5 Jahren Prozesskosten und Sozialtransfers ist eine Abschiebung ja kaum noch sinnvoll zu vertreten.

  • Stadtallendorf

    Welche Stadt in Deutschland, nach Berlin, hat mehr türkische Bürger?