Shlomo Lewin und Frida Poeschke: 45 Jahre behördliches Versagen
Wieder jährt sich der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke. Viele Fragen sind offen. So: Hätte der Verfassungsschutz die Tat gar vereiteln können?
Am 19. Dezember 1980 wurden der Rabbiner Shlomo Lewin und dessen im jüdisch-christlichen Dialog engagierte Lebensgefährtin Frida Poeschke in Erlangen ermordet. Bis heute gilt die Tat als das Werk eines rechten Einzeltäters, obwohl zahlreiche Umstände nahelegen, dass es Mitwissende und Mittäter*innen gibt, die bis heute nicht zur Verantwortung gezogen wurden. 2023 aufgetauchte Geheimdienstdokumente belegen außerdem, dass die Sicherheitsbehörden über Informationen verfügten, die den Verlauf der Ermittlungen hätten beeinflussen können – möglicherweise sogar ermöglicht hätten, die Tat zu verhindern.
Als Innenminister Gerhart Baum im Januar 1980 die neonazistische Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) verbot, war diese die wichtigste Organisation der extremen Rechten in Deutschland. Ihr Führer Karl-Heinz Hoffmann verlegte die Gruppe daraufhin in den Libanon. Dort erhielten die Neonazis von der palästinensischen Fatah Training, Unterkunft und Waffen. Hoffmann pendelte zwischen Deutschland und Beirut.
Wenige Tage bevor er einmal mehr in den Libanon reiste, explodierte im September 1980 auf dem Münchner Oktoberfest eine Bombe: 13 Tote, über 200 Verletzte. Unter den Toten war auch der Täter und WSG-Anhänger Gundolf Köhler. Auch er gilt bis heute als Einzeltäter. Etliche Widersprüche stellen auch das in Frage. Der Anschlag und die darauffolgenden Ermittlungen setzten Hoffmann unter Druck.
Vier WSG-Leute wurden kurzzeitig festgenommen, Hoffmanns Anwesen wurde durchsucht. Dennoch konnte er ausreisen. Im Libanon angekommen, diktierte er einem Gefolgsmann eine Verschwörungstheorie, die den Anschlag dem israelischen Geheimdienst zuschrieb. Der Erzählung zufolge habe dieser den Anschlag verübt, um Hoffmanns Beziehungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu sabotieren und die extreme Rechte im Allgemeinen und Hoffmann im Besonderen zu diskreditieren.
Die Ermittlungen konzentrieren sich zunächst auf das Umfeld der Opfer
Weniger als zwei Monate später wurden Shlomo Lewin und Frida Poeschke in Erlangen erschossen. Am Tatort fand man Reste eines selbstgebauten Schalldämpfers und eine Sonnenbrille – ein Unikat und, wie sich später herausstellen sollte, ein Geschenk an Franziska Birkmann, Hoffmanns Lebensgefährtin.
Lewin war Hoffmann keineswegs unbekannt. 1977 hatte er gegen Hoffmanns „Auschwitz-Kongress“ protestiert und eine Rede gehalten. Hoffmann erwähnte ihn später in der WSG-Zeitschrift „Kommando“ in antisemitischer Manier. Bei der Durchsuchung von Hoffmanns Schloss 1980 lag zudem eine Ausgabe der italienischen Zeitschrift OGGI auf dessen Schreibtisch, in der nicht nur Hoffmann, sondern auch Lewin als dessen prominenter Kritiker porträtiert wurde.
Trotz dieser Nähe konzentrierten sich die Ermittlungen zunächst auf das Umfeld der Opfer und spekulierten über Eifersucht oder unseriöse Geschäftspraktiken. Birkmann wurde erst zwei Monate nach der Tat vernommen, Hoffmann erst im April 1981. Das Schloss in Ermreuth durchsuchte man sogar erst im Mai desselben Jahres erneut.
Als WSG-Mitglieder aus dem Libanon zurückkehrten, belasteten manche Hoffmann, berichteten, er habe versucht, sie für einen Mord an einem Juden nahe Ermreuth zu rekrutieren, und dass Hoffmann Schalldämpfer gebaut habe. Auch Birkmann belastete Hoffmann zeitweise. In dieser Situation änderte er 1981 seine Strategie: Er erklärte, Uwe Behrendt, sein ergebenster Anhänger, habe die Brille gestohlen und eigenmächtig die Morde begangen – angeblich aus „Rache“ für das vermeintlich vom israelischen Geheimdienst, also von „den Juden“, fingierte Oktoberfestattentat.
Damit legte Hoffmann exakt jene Verschwörungstheorie, die er zuvor diktiert hatte, Behrendt in den Mund. Behrendt floh mit Hoffmanns Hilfe in den Libanon. Angeblich starb er dort im September 1981 durch Selbstmord.
Eine lange geheime Akte wirft neue Fragen auf
1986 endete der Prozess gegen Hoffmann und Birkmann mit Freisprüchen in der Mordsache. Das Gericht folgte auf ganzer Linie Hoffmanns Version, die sämtliche belastende Umstände zu seinen Gunsten deutete. Der angebliche Einzeltäter galt als tot und konnte nicht widersprechen.
Im Mai 2023 gelangte die Bundestagsabgeordnete Martina Renner* (Die Linke), an eine bislang geheim gehaltene Akte des Verfassungsschutzes. Darin fand sich ein Bericht eines Informanten des bayerischen Verfassungsschutzes, der in Ermreuth sechs Tage vor den Morden auf Hoffmann, Birkmann und Behrendt traf. Die drei hantierten mit Metallrohren, bemüht darum, keine Spuren zu hinterlassen. Auch in den Prozessakten findet sich diese Schilderung, hier mit Klarnamen und im Kontext der Herstellung eines Schalldämpfers. Der Geheimdienst unternahm ob dieser brisanten Beobachtung nichts.
Im Februar 1981 wandten sich die bayerischen Verfassungsschützer dann an das Bundesamt für Verfassungsschutz und baten um Bilder einer in Bonn gefundenen Rohrbombe. Sie wollten diese ihrem Informanten vorlegen, da sie einen Zusammenhang mit dessen Beobachtungen für möglich hielten. Erst Wochen später leitete das Bayerische Landesamt den Bericht auch an die Sonderkommission zu dem Doppelmord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke weiter.
45 Jahre nach dieser schrecklichen Tat bleiben Frage offen. Unter anderem: Weshalb griff der Verfassungsschutz nicht direkt ein, nachdem sein Informant Hoffmann und Co beim konspirativen Werkeln mit Metallrohren beobachtet hatte? Weshalb hielten die Geheimdienstler eine Verbindung dieser Beobachtung mit einer Rohrbombe in Bonn für wahrscheinlicher als mit dem Mord an Lewin und Poeschke oder mit dem nur wenige Wochen zurückliegenden Oktoberfestattentat?
Gegen das Vergessen und für eine lückenlose Aufklärung
Klar scheint: Hätte der Verfassungsschutz unmittelbar gehandelt, wären frühere Durchsuchungen und Vernehmungen ebenso möglich gewesen wie die Vereitelung von Behrendts Flucht. Möglicherweise hätten sogar die Morde an Lewin und Poeschke verhindert werden können.
Für die Polizei und die Justiz mag die Geschichte heute abgeschlossen sein. Die Frage nach Gerechtigkeit stellt sich aber auch politisch und historisch. Der Anspruch auf Unversehrtheit, Glück und Heilung ist für Lewin und Poeschke nicht mehr einzulösen. Und doch bleibt – wie der Philosoph Max Horkheimer es einst ausdrückte – die „Sehnsucht, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“.
In diesem Sinne kämpfen der Journalist Ulrich Chaussy und Engagierte wie die Erlanger Initiative kritisches Gedenken gegen das Vergessen und für eine lückenlose Aufklärung. Chaussy hat in diesem Jahr das Buch „Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen“ veröffentlicht, in dem er die Hintergründe der Tat umfassend beleuchtet.
Die Erlanger Initiative kritisches Gedenken hat mit der Zentrale für kritische Bürger*innen-Anliegen eine bewegende Ausstellung produziert, die noch bis zum 20. Dezember dieses Jahres besichtigt werden kann.
*Transparenzhinweis: Der Autor dieses Textes arbeitet als Referent für Antifaschismus der Fraktion Die Linke im Bundestag. Von 2015 bis 2023 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die damalige Bundestagsabgeordnete Martina Renner tätig. Für die Neuauflage des Buches „Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen“ verfasste er einen Beitrag über die Rolle des Geheimdienstes.
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