70 Jahre Gastarbeitervertrag mit Italien: Mehr amore per favore!
Eine Liebesgeschichte wider Willen: Italienische Arbeitskräfte bauten Deutschland mit auf und prägen es bis heute. Dieser Erfolg kann uns jetzt lehren.
D eutschland brauchte 1955 arbeitswillige Hände, Italien eine Perspektive. Nach dem Anwerbeabkommen, das es deutschen Unternehmen erstmals ermöglichte, Arbeitskräfte aus Italien legal anzustellen, machten sich Millionen Menschen auf den Weg, um das unbekannte, vom Krieg gebeutelte Germania wieder aufzubauen. Damit wurde Deutschlands Zukunft als Einwanderungsland besiegelt – lange bevor man dieses Wort überhaupt kannte.
In den folgenden Jahrzehnten kamen rund 4 Millionen Menschen aus Italien zum Arbeiten nach Deutschland, Hunderttausende blieben. 70 Jahre sind seitdem vergangen, und bis heute ist Deutschland das EU-Land mit dem höchsten Anteil italienischer Zuwanderung. Der Anfang dieser Liebesgeschichte war allerdings alles andere als dolce, sondern voller Skepsis und Rassismus. Der Blick zurück zeigt aber: Diese Migration wurde zur Erfolgsgeschichte. Und davon brauchen wir aktuell mehr denn je. Wenn es Deutschland geschafft hat, Italien so ins Herz zu schließen, dann geht das auch mit anderen Nationen.
Deswegen: Mehr amore per favore!
Was für ein fader Anblick wäre Deutschlands Stadtbild ohne italienische Eisdielen, Vinotheken und Restaurants? Kaum vorstellbar. Die Gastronomie ist fest in italienischer Hand, die einstigen Gäste sind längst Gastgeber geworden. Auch die deutsche Sprache trägt italienische Spuren in sich: Spesen, Skonto, Ghetto, Quarantäne. Selbst das „aufdonnern“, wenn Frau sich richtig in Schale wirft, geht auf die italienische Dame „donna“ zurück.
Mit den Jahren stellte sich in Deutschland eine unerfüllte Sehnsucht nach Bella Italia ein. Und die bedient natürlich die Werbebranche. Wer erinnert sich nicht an die Ferrero-Werbung „Caffè? Solo con Giotto!“? Ein Haps, und Italien liegt auf der Zunge. Zumindest das Italien, das sich Deutschland über Jahrzehnte erschmeckt hat. Dabei kennt man in Italien die Praline kaum. Sie ist ein Produkt, das allein für den deutschen Markt entwickelt wurde.
Heute eine perfekte Symbiose
Für Italien verkörpert Deutschland dagegen Ordnung und eine funktionierende Verwaltung jenseits der Alpen. Rechnungen, die bezahlt werden. Steuern, die eingezogen werden. Der Deutsche gilt als korrekt, pflichtbewusst – etwas ruppig, aber zuverlässig. Einer, der pünktlich ist und pünktlich isst. Um 18 Uhr Abendbrot. Gut für die Verdauung. Von Deutschland kann man sich eine Scheibe abschneiden, da macht nicht jeder, was er will. Außerdem, neugierig und reisefreudig, überall sind sie, diese tedeschi!
Alles Klischees natürlich, zugespitzt und liebevoll überzeichnet. Denn hierzulande funktioniert längst nicht mehr alles so reibungslos, wie der Ruf es besagt. Und in Italien ist es nicht so toll, wie es immer heißt. Oder warum sonst müssen noch immer viele junge Menschen das Land verlassen, um Arbeit zu finden? Anders als damals sind es aber nicht mehr die, die vor allem körperliche Arbeit im Bau und in Fabriken verrichten, sondern die klügsten Köpfe des Landes. Braindrain statt Dolce Vita.
Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – scheinen Deutschland und Italien heute wie füreinander gemacht. Eros Ramazzotti ist eine feste Größe des deutschen Pops, Wurstel und Crauti sind längst Teil der italienischen Grundversorgung. Eine perfekte Symbiose also? Ja, zumindest heute.
Von Spaghettifressern zu Sympathieträgern
Doch das deutsch-italienische Verhältnis war nicht immer so harmonisch. Anfangs gab es wenig Zuneigung, als die ersten sogenannten Gastarbeiter hier Fuß fassten. Die Unterkünfte hießen nicht ohne Grund „Baracken“. Und „Spaghettifresser“ war noch eine der milderen Beleidigungen. Aus Zeitzeugenberichten geht hervor, dass auch von Messerstechern und ausländischen Männern die Rede war, die deutsche Frauen belästigen würden. Rassismus aus der Vergangenheit, der erschreckend vertraut klingt. Nur richtet er sich heute gegen andere.
Was also hat Italien mit Deutschland gemacht? Sehr viel. Das Abkommen von 1955 hat bewiesen, dass Deutschland kann, wenn es will, diese Sache mit Toleranz, Offenheit und Integration. 70 Jahre später blicken wir auf etwas, das gelungen ist. Aus einem arbeitsmarktpolitischen Instrument ist eine kulturelle Verbindung geworden. Geteiltes Arbeiten wurde zu geteiltem Leben und geteilter Liebe.
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