1.400 Tage Krieg in der Ukraine: Weihnachtsbaum steht für Widerstand
Familienfeste, Weihnachtsbeleuchtung – all das ist in der Ukraine heute etwas Kostbares. Unsere Autorin reflektiert über die kommenden Feiertage.
I n meiner Kyjiwer Wohnung gibt es schon seit fünf Stunden keinen Strom mehr. Licht spendet einzig ein kleiner, batteriebetriebener Weihnachtsbaum von Jysk. Normalerweise fange ich nicht so früh mit den Weihnachtsvorbereitungen an. Bei uns in der Ukraine wurden solche Bäume gewöhnlich erst am 31. Dezember als Neujahrsbäume aufgestellt.
Aber in diesem Jahr haben die Russen schon Anfang November damit begonnen, unsere Energieinfrastruktur zu bombardieren. Darum stehen jetzt in meiner Wohnung außerdem überall Kerzen. Würde man das nicht im Kontext des Krieges sehen, wirkte es gemütlich, ja sogar festlich. Aber das ist unmöglich, denn fast jede Nacht fliegen Raketen und Drohnen auf Kyjiw.
Ukrainische Journalistin und Produzentin aus der Region Cherson, 28 Jahre, lebt in Kyjiw. Master in Kulturwissenschaften. Seit 2022 arbeitet sie an einem Nachrichten- und Analyseprojekt über das Leben der Menschen im Süden der Ukraine während des Krieges. Als Produzentin erstellt sie das Geschichts-Projekt „Deokupowana istoriia“ (Befreite Geschichte) über russische Mythen im Süden der Ukraine.
Kindheitserinnerungen
Die kleinen Lichter versetzen mich in meine Chersoner Kindheit zurück. Neujahr war immer der Feiertag, auf den ich mich am meisten gefreut habe. Nicht wegen der Geschenke, sondern wegen der Leute. Wir hatten Gäste, haben das Haus geschmückt, mein Vater kaufte einen Tannenbaum und meine Schwester und ich stritten darüber, wie wir ihn schmücken sollten. Für mich war das immer die schönste Zeit im Jahr: Meine Eltern mussten nicht zur Arbeit, nahmen sich Zeit für sich und vor allem auch für uns.
Mama bereitete mit uns Heringssalat, Sülze, Kartoffeln und Fleisch vor. Papa ging mit uns zum Eisangeln. Als ich Kind war, gab es im Gebiet Cherson noch schneereiche, eisige Winter. Wir nahmen den Schlitten und unseren Hund Bob mit und verbrachten dann Stunden am zugefrorenen Fluss. Ich mochte es immer sehr, wie Bob auf dem Eis herumtollte – er rutschte, fiel und sprang wieder hoch. Und wir standen daneben und lachten.
In diesem Jahr werde ich Neujahr wieder einmal mit meinen Eltern feiern. Jetzt bin ich es, die lange Urlaub hat und ihn zu Hause mit der Familie verbringen möchte.
Temporär besetzt
Das Gebiet Cherson im Süden der Ukraine hat nichts mehr mit dem meiner Kindheit zu tun. Teile des Gebietes sind russisch besetzt, andere unter ständigem Beschuss. Dort, wo meine Eltern leben, ist es relativ ruhig. Aber auch dorthin kommen manchmal Shahed-Drohnen. Von Kyjiw ins Dorf meiner Eltern brauche ich fast zehn Stunden mit Bahn und Bus. Das ist lange. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass dieses Dorf ebenfalls temporär besetzt war und von der ukrainischen Landkarte hätte verschwinden können, bin ich bereit für solch einen Weg. Das Wichtigste ist doch, dass man überhaupt noch hinfahren kann.
Ich frage mich oft, ob die Menschen in den Gebieten nahe der Front überhaupt noch feiern. Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe, dass Menschen manchmal zusammenkommen müssen. Um ein bisschen durchzuatmen.
Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne
Neujahrstraditionen
Dieses Jahr treffen wir uns also wieder zum gemeinsamen Neujahrsessen. Es gibt Kutja, das ist ein Brei aus Weizen mit Honig, Mohn, Nüssen und getrockneten Früchten, ich liebe das. Kutja ist eigentlich ein traditionelles Weihnachtsessen, aber ich bitte Mama immer, sie zu Neujahr zu machen. Und so sollte ein Neujahrsfest auch gefeiert werden, ruhig und gemütlich. Wenn auch vielleicht ohne Strom.
Meine Erinnerungen an die sorglose Chersoner Kindheit und die harte Realität des Krieges sind schwer zu vereinbaren. Das ist ein bisschen wie zwei völlig verschiedene Filme: eine Familienkomödie und ein Kriegsdrama. Aber beide handeln vom Leben.
Der ukrainische Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, Hryhorii Skovoroda, schrieb: „Das Licht der Freiheit besiegt die Dunkelheit.“ Heute kann man diesen Satz wörtlich nehmen. Russland versucht bereits seit drei Jahren, die Ukraine durch Angriffe auf die Energieinfrastruktur in Dunkelheit zu stürzen.
Und jedes Mal leisten die ukrainischen Energieversorger Unmögliches – sie arbeiten unter Beschuss, reparieren die Stromnetze und bringen das Licht zurück. Licht in der Ukraine bedeutet heute nicht Komfort. Es ist eine innere Form des Widerstands. Und vielleicht beginnt Freiheit genau mit solchen einfachen Dingen.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Aus dem Ukrainischen: Gaby Coldewey
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