Infrastruktur in der Ukraine: Zehn Stunden Strom am Tag
Der Ukraine steht ein schwieriger Winter bevor. Russland versucht, die Stromversorgung des Landes in zwei Teile zu spalten.
Wann wird es endlich wieder hell? Diese Frage treibt die Ukrainer mehr um, als die Verhandlungen zwischen den USA, Europa, Russland und Kyjiw. Angesichts der andauernden russischen Angriffe warnen Experten und Beamte schon seit Langem vor einem schwierigen Winter für die Energieversorgung.
„Der ukrainische Energiesektor wird in folgendem Modus operieren: großflächiger Beschuss, danach fünf bis sechs Tage für die Wiederherstellung mit Notfallabschaltungen für Millionen von Kunden, mehrere mehr oder weniger stabile Tage mit geplanten Abschaltungen und dann wieder ein großflächiger Beschuss“, kündigte Alexander Chartschenko vom Center for Energy Research bereits im September im Radiosender NV an.
Leider hat sich seine Voraussage bewahrheitet. Seit Herbst greifen die Russen Kraftwerke, Umspannwerke, Eisenbahnstrecken und Gasfelder an. Am 9. Dezember räumte die ukrainische Ministerpräsidentin Julia Swrydenko ein, dass nun auch Teile der kritischen Infrastrukturen von der Stromversorgung abgekoppelt und mit Generatoren betrieben würden.
Auf diese Weise hofft die Regierung, die Dauer regionaler Stromausfälle zu verkürzen und mehr Strom für die Allgemeinheit bereitstellen zu können. „Bitte verlegen Sie die Nutzung von Elektrogeräten mit hohem Stromverbrauch in die Nachtstunden – nach 23.00 Uhr“, appelliert DTEK, eines der größten privaten Energieunternehmen der Ukraine, immer wieder an seine Kunden.
704 Drohnen und Raketen
Das Unternehmen teilte mit, dass die Russen in der Nacht zum 6. Dezember 704 Drohnen und Raketen auf Kraftwerke abgefeuert hätten. Die Flugabwehr konnte nicht alle abfangen. Die Energieversorger waren gezwungen, Notabschaltungen durchzuführen. „Notfall“ bedeutet in diesem Fall: ohne Vorwarnung.
Für viele Ukrainer, die seit Jahren unter diesen Bedingungen leben und erschöpft sind, ist dies sehr beunruhigend. Im Dezember kann es vorkommen, dass Haushalte 14 bis 16 Stunden am Tag ohne Strom sind. In den sozialen Medien kursieren Empörung und Besorgnis.
Die Ukrainer geben dafür nicht nur den Russen die Schuld. Auch die ukrainische Regierung und die Energieunternehmen seien verantwortlich, da sie „aus nicht nachvollziehbaren Gründen den Strom abstellen“ oder ihn „weiterhin in die EU exportieren“ würden.
Als Reaktion darauf erklärten die Energieunternehmen, dass viele Wärmekraftwerke und Hochspannungsnetze betroffen seien, eine sichere Stromübertragung sei schlichtweg unmöglich geworden. Solange die Netze nicht repariert seien, könnten auch Kernkraftwerke ihre Leistung nicht wieder hochfahren.
In den Grenzregionen sowie den Gebieten Charkiw, Tschernihiw, Sumy und Poltawa ist die Lage besonders kritisch. Laut Ukrenergo seien in der Hauptstadt Kyjiw 50 Prozent der Haushalte ohne Strom.
In Odessa führte ein Stromausfall zu großflächigen Straßensperrungen. Die Stadt lag mehrere Tage lang fast völlig im Dunkeln. Nach dem russischen Angriff am 13. Dezember wurde in der Region Odessa der Ausnahmezustand verhängt. Es handelte sich um einen der schwersten Angriffe in der Region seit dem Beginn des Krieges.
Eine halbe Million Haushalte war ohne Strom. Daher beschlossen die lokalen Behörden, mit den Unternehmen eine Vereinbarung zur Reduzierung insbesondere der dekorativen Beleuchtung zu treffen. Zusätzlich werden Mittel aus einem Reservefonds bereitgestellt, um Generatoren in Krankenhäusern, Bildungseinrichtungen und anderen wichtigen Einrichtungen mit Treibstoff zu versorgen.
Laut Wolodymyr Omeltschenko, Leiter der Energieprogramme am Kyjiwer Rasumkow-Zentrum, verfolge der Kreml konsequent die Strategie, das ukrainische Energiesystem in zwei Teile zu spalten – den einen am rechten Ufer, den anderen am linken Ufer des Dnipro.
Seinen Angaben zufolge sei der Teil der Ukraine am linken Ufer, einschließlich Kyjiw, aufgrund der Konfiguration des Stromsystems historisch unterversorgt. Alle neun Kernkraftwerksblöcke befänden sich am rechten Ufer, und auch alle Stromimporte stammen von der Westgrenze. Infolgedessen führten regelmäßige Angriffe auf die Stromerzeugung am linken Ufer zu einer zunehmenden Verknappung, während überschüssige Importe und erzeugter Strom aufgrund zerstörter Stromleitungen nicht vom rechten zum linken Ufer transportiert werden könnten. Daher seien die westlichen Regionen deutlich weniger von Stromausfällen betroffen.
„Russlands Strategie sieht die Zerstörung der lebenswichtigen Infrastruktur der Ukraine vor, darunter Umspannwerke in der Nähe von Atomkraftwerken. Dadurch entsteht ein hohes Risiko eines von Menschen verursachten Unfalls“, so Omeltschenko.
In der Innenstadt der westukrainischen Stadt Luzk sind unterdessen die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet worden. „Ich hoffe, es gibt in diesem Winter nicht so viel Schnee und Frost, auch wenn ich dann weniger verdiene“, sagt ein Fotograf. Seine eine Körperhälfte ist in Dunkelheit gehüllt, während die andere im festlichen Lichterglanz erstrahlt.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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