Weihnachten mit der Familie: Wenn das Fest zur Tortur wird
Viele Jugendliche erleben in der Weihnachtszeit statt familiärer Harmonie Ängste, Streit und Trauer – sie leiden darunter, mal laut, mal still.
A n einem Dezemberabend in Berlin setzt eine junge Mutter auf der Straße zum Lied an: „Iiin der Weihnachtsbäckerei“. Die vielleicht Vierjährige in ihrer Begleitung will einsteigen, rätselt aber, wie es weitergeht. Glücklicherweise ist der Fundus an festlichem Liedgut groß genug für ein Ausweichmanöver. Schrill und begeistert schallt es über die Friedrichstraße: „O Tannebaum! O Tannebaum!“
So können sie aussehen, die kindlichen Episoden, die zu unvergessliche Erinnerungen wachsen: Irgendwann im Jahr, wenn es kalt wird, werden die Erwachsenen plötzlich musikalisch, werden Kerzen angezündet und Lichterketten aufgehängt. Es folgen Überraschungen im Schuh, ein Kalender-Countdown, dann das Finale: ein großes Fest mit der Familie, Essen, Geschenke. Weihnachten.
So harmonisch geht es für viele Menschen an den Feiertagen aber höchstens in der Kindheit zu, für andere war diese Coca-Cola-Version von Weihnachten noch nie Realität. Anstatt Vorfreude spüren insbesondere Jugendliche vor den Weihnachtsfeiertagen eher eine Angst: „Man sitzt als Familie oft mit sehr großen Erwartungen beieinander: Jetzt sind die Feiertage, jetzt muss alles perfekt sein“, sagt Juliane Pougin. Sie ist die Leiterin des Fachbereichs psychosoziale Beratung bei Krisenchat, einem unabhängigen Beratungsangebot, bei dem Jugendliche anonym mit Expert*innen über ihre psychischen Belastungen sprechen können. „Das ist für viele Jugendliche schon im Vorhinein eine sehr anstrengende Vorstellung“, so Pougin. Leider bewahrheite die sich auch oft.
Beratungsbedarf besonders hoch über die Feiertage
Für junge Menschen kann Weihnachten so zur belastendsten Zeit des Jahres werden. Zwischen dem 24. 12. und 26. 12. verzeichnet Krisenchat auf Grundlage vergangener Evaluationen einen Anstieg des Beratungsbedarfs um 150 Prozent. Laut Angaben der Beratungsstelle drehen sich knapp ein Viertel aller Gespräche an den Weihnachtsfeiertagen um familiäre Konflikte. Mal geht es um politische Themen, mal um vermeintliche Banalitäten wie das Essen: „Allein die Frage von Jugendlichen ‚Warum ist das nicht vegan?‘, kann ältere Menschen triggern, da können die bösesten Streitereien auftreten“, schildert Pougin. Aber auch diskursive Weihnachts-Klassiker, wie etwa Fragen nach der Ausbildung, Jobperspektiven, dem Nachwuchs oder Lebensstil, bergen Eskalationspotenzial.
Manchmal enden diese Themen im offenen Streit, oft unterdrücken die Betroffenen aber auch Traurigkeit und Ärger, weil sie der Erwartung familiärer Harmonie an Weihnachten entsprechen möchten. Ein großes Problem seien laut Pougin auch fehlende Rückzugsmöglichkeiten und Kontakt zu Freund*innen während der Feiertage.
Ganz abgesehen davon, ist die Idee der harmonischen Familie für gut ein Viertel der jungen Menschen in Deutschland schon strukturell eine Illusion. So groß ist laut Deutschem Jugendinstitut der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die im Laufe ihrer jungen Jahre eine Trennung der Eltern erleben müssen. Für Trennungskinder kann die Weihnachtszeit verstärkt zum emotionalen Marathon werden: Eltern und Großeltern leben oft unversöhnlich getrennt, wollen aber trotzdem besucht werden – und richten dabei je ihre eigenen Projektionen und Erwartungen an den Nachwuchs.
Depressionen und Angststörungen unter Jugendlichen stark ausgeprägt
Streit und Konflikte gibt es durchaus auch in ökonomisch gut gestellten und vermeintlich intakten Familien, sagt Juliane Pougin: „Das kann auch in der Heile-Welt-Familie passieren, das Reihenhaus ist davon genau so betroffen wie die Sozialwohnung.“ Zwar zeigen jüngste Studien an, dass sich die psychische Gesundheit bei Jugendlichen seit einem Negativrekord während der Pandemie-Jahre schrittweise erholt, auf dem vormaligen Niveau ist sie aber noch nicht angelangt.
Nach wie vor sind vor allem Depressionen und Angststörungen unter jungen Menschen, besonders bei Mädchen und jungen Frauen, stark ausgeprägt. Singsang und Geschenke können allenfalls Kinder über solche Probleme hinwegtrösten. Für Jugendliche wäre ein Anfang vielleicht: Verständnis.
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