Mercusor-Abkommen: Neokoloniales Projekt
Das Mercosur-Abkommen könnte trotz heftiger Proteste bald verabschiedet werden. Dabei richtet es sich gegen die Umwelt und die indigenen Völker.
S ame procedure as every year: Wieder heißt es, das Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Bolivien, Paraguay und Uruguay stehe kurz vor der Ziellinie. Es sei „die letzte Chance“, um dort gegen China zu punkten, den bereits größten Handelspartner der Region. Am eifrigsten bemüht sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ihren Flug zum Fototermin vor den Iguaçu-Wasserfällen absagen musste. Vor einem Jahr hatte sie bereits mit Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva einen recht eigenmächtigen Abschluss in Montevideo gefeiert – zu früh.
Bei der jüngsten Ratifizierungsdebatte im Europarat waren es bei Weitem nicht nur die Regierungen der beiden EU-Schwergewichte Frankreich und Italien, die sich dem deutschen Druck widersetzten, sondern auch jene aus Irland, Belgien, den Niederlanden, Österreich, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Dabei versuchen deutsche Regierungen schon seit vielen Jahren, den Vertrag mit der Brechstange, allerhand Tricks und durchsichtigen Schmeicheleien durchzudrücken. Bei ihren Südamerikabesuchen lassen sie keine Gelegenheit aus, um dafür zu werben.
Die Lobby der Befürworter ist ungleich mächtiger als die Mitglieder der über 400 Kleinbauern-, Umwelt- oder Nord-Süd-Organisationen beiderseits des Atlantiks, die ihn ablehnen. Denkt man an die Ressourcen, die Generationen von Politikern, Unternehmern, Mitglieder sozialer Bewegungen oder von NGOs seit 1999 hineingesteckt haben, ist es tatsächlich der „größte Deal aller Zeiten“, wie es oft heißt. Leider ein schlechter – jedenfalls, wenn man eine gerechte und ökologische Handelspolitik als Maßstab nimmt.
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Im Kern handelt es sich um ein neokoloniales Projekt. Sollte es tatsächlich bald ratifiziert werden, wird es wenige Gewinner und viele Verlierer geben. Profitieren werden europäische, vor allem deutsche Unternehmen: Auto- und Maschinenbauer, Chemie- und Pharmakonzerne, Weinbauern. In Südamerika freuen sich bereits die mächtigen Protagonisten des Agrobusiness, an dem keine Regierung vorbeikommt. Angehörige der oberen Mittelschicht von Buenos Aires oder São Paulo dürfen künftig unter mehr und preiswerteren Milchprodukten oder direkt importierten SUVs aus Europa auswählen. Schließlich wird es für Firmen aus der EU einfacher, Lithium, seltene Erden oder andere kritische Rohstoffe zu fördern oder zu importieren.
Bescheidene umweltpolitische Regeln, die die Europäer angesichts des brasilianischen Urwald-Killers Jair Bolsonaro durchsetzten, wurden gegenüber Lula wieder zurückgenommen. In den letzten Verhandlungsrunden gelang es Brasilien, längere Übergangsfristen für die heimische Autoindustrie oder Verbesserungen beim öffentlichen Beschaffungswesen zu erzielen – nun müssen nicht mehr alle Ausschreibungen für europäische Firmen geöffnet werden. Die Südamerikaner lehnen einklagbare Bestimmungen zum Schutz der Umwelt oder der Menschenrechte ab und rennen damit bei dieser EU offene Türen ein, wie die jüngste Entkernung des Lieferkettengesetzes zeigt. Besonders absurd ist ein neues Klagerecht gegen die Nachhaltigkeitsgesetze des europäischen Green Deal.
Der Trend zur „Reprimarisierung“, also zur Fixierung auf den Export von kaum weiterverarbeiteten mineralischen Rohstoffen und Agrargütern der südamerikanischen Volkswirtschaften, setzt sich weiter fort und erinnert an die internationale Arbeitsteilung in der Kolonialzeit. Gewerkschafter in Argentinien und Brasilien kritisieren diese Großattacke auf ihre Industrie, die viele Tausende Arbeitsplätze kosten wird. Doch ihr Einfluss ist gering. Wirtschaftslobbyisten hatten allerdings stets direkten Zugang zu den geheim geführten Verhandlungen.
Der Vertrag treibt die Urwaldzerstörung voran, Regenwälder und Savannen machen Sojafeldern und Rinderherden Platz. Das trägt zur Verschärfung des Klimawandels bei. Die Lebensumstände vieler indigener Völker und Kleinbauern, die schon jetzt Vertreibungen durch Großprojekte ausgesetzt sind, werden sich ebenfalls verschlechtern. Das befürchten nicht nur die Hilfswerke Misereor und Brot für die Welt.
Am stärksten und wirkungsvollsten ist der Widerstand der europäischen Landwirte, vom Bayerischen Bauernverband bis zur linken Confédération paysanne in Frankreich. Sie sehen sich durch die Konkurrenz von Billigprodukten aus dem Mercosur bedroht, die nicht unter den viel strengeren EU-Standards produziert werden. Bereits jetzt exportieren Chemiemultis Unmengen von Agrargiften dorthin, die in Europa nicht zugelassen sind und auf dem Umweg über die Soja- oder Rindfleischproduktion im Mercosur wieder auf den Tellern der europäischen Verbraucher landen.
Keine Augenhöhe
Oft ist in Brüssel von Verhandlungen „auf Augenhöhe“ oder von einer „Wertegemeinschaft“ die Rede, doch die Fragezeichen dahinter häufen sich. Heute sollen asymmetrische Energiepartnerschaften boomen. Kultur, Klimaschutz und Menschenrechte hingegen haben keine Konjunktur. Dass die EU in der Ukraine und im Nahen Osten mit zweierlei Maß agiert, kostet sie auch in Südamerika viele Sympathien. Dort wiederum geht es ihr in erster Linie um Profite. Dieses Mercosur-Abkommen ist der beste Beleg dafür.
Geopolitische Spannungen zerren an beiden Wirtschaftsblöcken. Angesichts der Zollpolitik der US-Regierung setzt Lula auf mehr Multilateralismus, auf Abkommen mit Kanada, Japan, Vietnam oder Indien. Dem argentinischen Ultra Javier Milei ist jede Zusammenarbeit im Rahmen des Mercosur ein Graus. Seine Außenpolitik ist fast ausschließlich auf die USA fixiert, er ist Donald Trumps U-Boot in der Region. Dass diese beiden das Abkommen als nächste torpedieren könnten, ist durchaus denkbar.
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