„Die Armen sind kolossal kreativ“

MODERATION REINER METZGER

taz: Meine Herren, Konzerne werden zwar zunehmend als die Verantwortlichen für die Auswüchse der Weltwirtschaft erkannt, können aber offensichtlich alle von den ihren Kritikern verkündeten Grenzen des Wachstums ignorieren. Stehen da Globalisierungskritiker nicht machtlos vis-à-vis?

Nicanor Perlas: Es stimmt, die Nationalstaaten haben ihre Entscheidungsfindung an die transnationalen Konzerne abgeben. Diese Konzentration der Macht ist allerdings nicht nachhaltig. Deshalb wird das System zusammenbrechen.

Manfred Max-Neef: Wir Ökonomen können sogar in der Theorie beweisen, dass diese Macht zusammenbrechen muss – es ist allerdings unmöglich, den genauen Zeitpunkt zu berechnen. Das System wird entweder aus ökologischen oder aus finanziellen Gründen kollabieren. Ich glaube, der finanzielle Kollaps wird zuerst kommen, denn am Steuerruder sitzen nur die globalen Spekulanten – das ist offensichtlich nicht nachhaltig.

Nicanor Perlas: Das gegenwärtige System der Globalisierung muss sich doch einigen wirklich großen Fragen stellen:

1. Das Phänomen „big oil“, die Abhängigkeit vom Öl. Wir kommen bald zum Punkt, wo die Nachfrage größer wird als das Angebot. Das wird ein großer Schock. Denn der Aufbau der kapitalistischen Strukturen der vergangenen zweihundert Jahre beruhte auf dem billigen Nachschub an Energie und Öl.

2. Die globale Erwärmung. Sie kommt viel schneller, als die Leute dachten. Das jetzige globale System ist aber auf der heutigen Klimaverteilung aufgebaut.

3. Zum ersten Mal erkennen die Massen, wer das Finanzsystem kontrolliert und warum. Es gibt zunehmend Kritik – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, Asien und Lateinamerika – gegenüber dem Projekt des „Global Empire“, des kapitalistischen Weltreichs. Das ist wichtig, weil es einen sehr fruchtbaren Boden bereitet. Es schafft Chaos im System, und ein chaotisches System ist anfällig für Veränderungen. Dieses Wissen treibt diejenigen im Untergrund an, die all die Alternativen schon erproben.

Manfred Max-Neef: Wir bereiten uns nicht genügend auf den kommenden Kollaps des Systems vor. Denn wenn es zusammenbricht, werden wie immer die Armen die härtesten Konsequenzen tragen. Und da ist auch Perlas’ Punkt der Energie von größter Wichtigkeit: Selbst wenn man alle alternativen Energien plus die Atomkraft zusammennimmt, wird es nicht möglich sein, eine Weltwirtschaft zu erhalten mit dem gegenwärtigen Megawatt-Verbrauch. Alle Gesellschaften werden sich an einen geringeren Energieverbrauch anpassen müssen. Das bedeutet: Sozialer, politischer und ökologischer Wechsel ist absolut notwendig. Doch wir sind nicht darauf vorbereitet, und es gibt auch keine Politik, um das zu entwickeln.

Wie bereitet man sich, bitte schön, auf eine globale Krise vor?

Manfred Max-Neef: Leider sind die Antiglobalisierungsbewegung und all diese lokalen Gruppen nicht ausreichend fokussiert. Nehmen Sie die großen Treffen wie in Porto Alegre. Da haben Sie 50.000 Leute, jeder mit seiner eigenen Botschaft. Und die Summe des ganzen ist null. Es ist lediglich eine Art psychologischer Befreiungsschlag. Besser wäre es, die Bewegung würde sich auf ein oder zwei grundlegende Themen konzentrieren. Nicht mehr. Bewegungen sind meist sehr periodisch, ihr großer Schwung lässt auch schnell wieder nach. Da verlieren sie nur Energie mit solchen Treffen …

Welche Organisation könnte denn die weltweiten Graswurzelgruppen dazu bringen, sich auf eine Prioritätenliste der abzuarbeitenden Themen zu einigen?

Nicanor Perlas: Es geht auch ohne die Art von Organisation, die für die sozialen Bewegungen der vergangenen 200 Jahre charakteristisch war. Es wird viel diskutiert in den Bewegungen über die Eigenschaften von horizontalen Netzwerken, über Strategien. Es ist aber ein Kampf mit der Zeit, eine Art Notsituation. Die neuen sozialen Initiativen erwachsen aus sehr dezentralen Organisationen. Die Frage ist: Wird sich ihre Kraft schnell genug entwickeln, um den Kollaps des Systems auszugleichen? Noch dazu, wo der drohende Kollaps die Unterdrückung erst mal verstärken wird.

Tapio Mattlar: Die Situation in jedem Land ist natürlich einzigartig, und ich will unser Rezept daher nicht jedem empfehlen. Aber wir Finnen haben eine lange Tradition, über Autoritäten zu lachen. Das hat viel geholfen. Wir lachen auch über Schlagworte wie Globalisierung oder Kapitalismus. Wir denken frech, das wissen wir besser. Wir versuchen die besten Teile der Globalisierung anzunehmen, und den Rest lassen wir weg. So verdienen zum Beispiel die Bauern jetzt weniger als früher, wegen des Weltagrarmarkts und wohl auch wegen der Klimaveränderungen. Aber wir nutzen jetzt auf dem Land Internet, Mobiltelefon und so weiter. Dadurch sind viele neue Arbeitsmöglichkeiten auf das Land gekommen. Die Leute müssen nicht in die Stadt gehen, um ihr Brot zu verdienen.

Nicanor Perlas: Haben Sie in Finnland staatliche Programme, um den Dörfern zu helfen?

Tapio Mattlar: Solche Programme haben wir, auch von der Europäischen Union. Aber unsere Dorfinitiativen sind eine echte Graswurzelbewegung. Sie wurden gestartet ohne Staat. Auf lokaler Ebene funktionieren sie sogar gegen den Staat: Die größten Feinde der Eigeninitiative sind oft die mächtigen Verwaltungen vor Ort. Trotzdem gibt es in 3.900 Dörfern nun ein Dorfkomitee, das sich um Gemeinschaftsarbeiten und Kultur kümmert. Und wir haben nur 4.000 Dörfer in Finnland. Das Wichtigste auf dem Land in Finnland aber ist: Die Leute leben halb außerhalb der modernen Welt. Zum Glück. Wir brauchen zum Beispiel sehr viel Energie in Finnland, weil es so kalt ist. Aber wir in den Dörfern sind überhaupt nicht verbunden mit dem Energiesystem der Welt. Wir heizen mit Holz aus unserem eigenen Wald.

In Deutschland schätzen auch viele Menschen das Leben auf dem Land. Und auch sie würden gern in ihrer Heimatregion bleiben. Aber sie sagen: Hier gibt es keine Jobs. Wir müssen wegziehen.

Manfred Max-Neef: Diese Menschen denken in der Kategorie von abhängiger Beschäftigung, von Anstellung, von Jobs, nicht in der Kategorie Arbeit. Das passiert in vielen Ländern. Und das Schlechteste dabei ist: Da wo die Leute hinziehen, gibt es auch keine Jobs. Sie ziehen weg für eine Anstellung, die es gar nicht gibt. Wir müssen die Arbeit wieder neu erfinden. Wir brauchen wieder mehr Arbeit statt Anstellung.

Tapio Mattlar: Es gibt auch auf dem Land in Finnland nicht viele Jobs. Es gibt jedoch andere Wege, um zu überleben, als für jemanden zu arbeiten. Du kannst für dich selbst arbeiten oder deine eigene Firma oder Farm haben. Dafür braucht man wenig Geld. Als ich 1980 von der Stadt aufs Land gezogen bin, hat mein 35-Hektar-Bauernhof samt großem Haus und Anteil an einem See weniger gekostet als eine Dreizimmerwohnung in Helsinki.

Schön und gut. Aber irgendetwas muss man auch an die Außenwelt verkaufen, um die von dort bezogenen Produkte zu bezahlen. Was ist das in Ihrem Fall?

Tapio Mattlar: Da gibt es so viele Wege. Wir hatten unlängst eine Kampagne, um noch mehr Leute für das Land zu interessieren. Wir haben eine Anzeige geschaltet und auf leer stehende Höfe in unserer Gegend hingewiesen. Es meldeten sich viele Leute. Von jedem wollten wir wissen, wie er seinen Lebensunterhalt zu bestreiten gedenkt. Da kamen viele tolle Ideen: Einer wollte Funkgeräte für Kinder bauen, der Nächste alte finnische Autos nach Russland exportieren, jemand anderes Brautkleider nähen. Für all diese Sachen müssen sie nicht in der Stadt wohnen.

Manfred Max-Neef: Das sage ich ja: Arbeit wieder erfinden, anstatt nur angestellt zu sein. In den sprichwörtlichen guten alten Zeiten gab es keine Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit ist eine Erfindung der industriellen Revolution. Die Frage ist: Was kann davon wieder entdeckt und an die heutige Zeit angepasst werden? Was war die Struktur, die es damals ermöglicht hat, dass alle Arbeit fanden? Manche Arbeit damals war natürlich schlecht. Aber derzeit haben wir mehr als eine Milliarde Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen. Das ist doch verstörend in einer Welt, in der die Ressourcen im Überfluss genutzt werden.

Kann denn so etwas wie die finnische „Dörferbewegung“ auch in anderen Ländern funktionieren?

Nicanor Perlas: Ja, auf eine andere Weise. Es gibt auf den Philippinen und in anderen Ländern Asiens ein weit verbreitetes System von Mikrofinanzierung für Arme, von Kleinstkrediten über wenige Dollar. Die Hälfte der philippinischen Wirtschaft ist informell, taucht also in irgendwelchen Bilanzen überhaupt nicht auf. Wir organisieren die Wirtschaft der Armen ganz anders. Wir leihen nicht nur Geld, wir verbinden auch die einzelnen Kleinbanken. Wir schaffen ein sich selbst erhaltendes System für die Genossenschaften, anstatt eine kleine Version des Kapitalismus nachzubauen.

Manfred Max-Neef: Ein Merkmal der Armen ist, dass sie kolossal kreativ sind. Wir haben in Chile die Wirtschaft der Armen erforscht und klassifizierten allein in einer Stadt über 200 Arten von Überlebensjobs. Fantastische Sachen. Aber diese Dinge genießen keinerlei Unterstützung vom Staat. Der erste Schritt müsste doch sein: hinausgehen und sehen, was da an Kreativität da ist. Und dann diese existierende Kreativität unterstützen. Und nicht in einem Ministeriumsbüro ein Programm für die Schöpfung von Jobs aushecken. Eine Eigenschaft von Leuten, die über Armut reden, ist leider, dass sie Armut nicht verstanden haben und was das bedeutet. Sie werden sie erst verstanden haben, wenn sie arm waren oder zumindest mit den Armen gelebt haben. Wenn Sie im Dreck stehen, von Angesicht zu Angesicht mit dem sprichwörtlichen José Lopez – er hat keine Arbeit, fünf Kinder, ist arm und hungrig –, wollen Sie ihm dann sagen: „José, du solltest froh sein, das Bruttosozialprodukt wächst um fünf Prozent?“ Nach den Ergebnissen der herkömmlichen Volkswirte brauchen sie José übrigens gar nichts zu sagen – ökonomisch gerechnet müssten theoretisch alle Armen längst tot sein.

Das klingt nach Galgenhumor: Die armen Länder sind gegen weltweite Wirtschaftsschocks besser gerüstet, weil dort viele Menschen notgedrungen unabhängiger von der Weltwirtschaft überleben?

Nicanor Perlas: Ja.

Manfred Max-Neef: Aber trotzdem brauchen wir eine Hängematte, in die wir bei einer Krise fallen können. Und wir haben keine ausreichende Hängematte zur Zeit.

Aber was ist, wenn die großen Firmen wirklich in Schwierigkeiten kommen? Sie sind immerhin sehr effektive Maschinerien, die Waren günstig herstellen und vertreiben. Kommen wir ohne ihre Güter überhaupt noch aus?

Manfred Max-Neef: Ich würde eher fragen: Müssen wir wirklich mit denen untergehen? Was die treiben, ist manchmal einfach unausstehlich. Nehmen sie zum Beispiel das neue Saatgutgesetz der US-Verwaltung für den Irak: Alle Bauern im Irak sind demnach gezwungen, ihr Saatgut zu verbrennen. Sie dürfen Saatgut nur noch beim US-Konzern Monsanto kaufen. Das steht wörtlich so im Gesetz. Und das bringt Monsanto einen Schritt näher an sein Unternehmensziel: Monsanto hat nämlich den bescheidenen Anspruch formuliert, in 20 Jahren den Weltmarkt für Saatgut zu 100 Prozent zu beherrschen. Das ist alles, nur 100 Prozent. Die arbeiten daran, und viele bemerken es nicht.

Also Widerstand leisten?

Nicanor Perlas: Die Zivilgesellschaft hat eine gewisse Prominenz erlangt durch ihren Widerstand gegen viele Auswüchse. Aber Widerstand allein kann keine andere Welt erschaffen.

Manfred Max-Neef: Die Konzerne mit ihren Mitteln schlagen, geht nicht. Du kannst nicht gegen ein Nashorn kämpfen, wenn du nicht selbst ein Nashorn bist.

Nicanor Perlas: Wir müssen nun identifizieren, wo die großen Lösungen liegen und wo sie schon verwirklicht sind von den vielen zehntausend Aktiven überall auf der Welt. Das ist bisher zu lokal. Der nächste Schritt – und das ist wirklich die Herausforderung für die weltweite Zivilgesellschaft – wird sein, dieser Kreativität einen Schub zu verleihen, damit die Kräfte zusammenkommen und sich gegenseitig verstärken zur Veränderung der Gesellschaften. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Es kann auch auf internationalem Niveau passieren. Es ist nicht unmöglich, denn das Bewusstsein ist jetzt da.