„Europa darf kein Koloss werden“

INTERVIEW RALPH BOLLMANN

taz: Herr Winkler, in einem taz-Interview haben Sie voriges Jahr einen Machtwechsel in den USA vorausgesagt. Warum haben Sie sich getäuscht?

Heinrich August Winkler: Zum einen, weil der Gegenkandidat John Kerry das Gegenteil eines Charismatikers war. Zum anderen, weil die christlich-fundamentalistischen Wähler mit besonderer Disziplin zu den Urnen gegangen sind. Die Annahme, eine hohe Wahlbeteiligung würde Kerry zu Gute kommen, war der Ausdruck von Wunschdenken – auch meines Wunschdenkens.

Damals nahmen Sie an, die Folgen von Irakkrieg und Haushaltsdefizit würden die Wahl entscheiden. Stattdessen waren es jetzt die christlichen Werte?

Die Ursachen für dieses Wahlergebnis reichen tatsächlich in diese historischen Tiefenschichten hinein. Es handelt sich nicht nur um eine vorübergehende Bush-Konjunktur, sondern um ein tiefer liegendes Problem. Die amerikanische Revolution von 1776 war eine konservative Revolution. Die ersten Erklärungen der Menschenrechte, beginnend mit der „Bill of Rights“ von Virginia im Juni 1776, sind unbestreitbar christlich geprägt. Das wird in Europa vielleicht zu wenig bedacht.

Ist die Kluft zwischen dem religiösen Amerika und dem säkularisierten Europa noch zu überbrücken?

Zurzeit ist der religiöse Fundamentalismus in den USA an der Macht. Aber das muss nicht immer so bleiben. In der amerikanischen Geschichte hat sich das christliche Erbe der Gründerväter zum größten Teil im nichtfundamentalistischen Sinne ausgewirkt. Langfristig haben die USA bislang immer die Kraft gehabt, die Ausschläge des politischen Pendels auch wieder zu korrigieren.

Hilft der Protest gegen die Bush-Administration den Europäern sogar, eine gemeinsame Identität zu entwickeln – wie sich bei den Protesten gegen den Irakkrieg gezeigt hat?

Ich halte es für einen Ausdruck linken Wunschdenkens, diese Proteste als Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit zu betrachten. Diese Proteste waren nicht spezifisch europäisch, sie waren weltweit.

Aber sie haben das europäische Selbstbewusstsein gestärkt?

Jede Definition von europäischer Identität gegen eine andere Macht oder Weltanschauung würde Europa in die Irre führen. Es gibt gewiss allen Grund, Amerika in konkreten Entscheidungen zu widersprechen. Es gibt weiterhin ein breites Fundament an gemeinsamen transatlantischen, westlichen Werten, auch wenn wir diese Werte oft unterschiedlich interpretieren – denken Sie etwa an den Umgang mit dem Völkerrecht oder an die Todesstrafe. So wie Europa durch den Geist der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 geprägt ist, so sind die USA durch die europäische Emanzipationsgeschichte beeinflusst worden – nicht zuletzt durch den Kampf gegen das Staatskirchentum. Diesen Maßstab muss die EU im Übrigen auch an das Bewerberland Türkei anlegen, wo eine Behörde mit mehr als 90.000 Beschäftigten, darunter die Imame, das religiöse Leben bis ins Detail kontrolliert.

Europa soll sich also mit Kritik an den USA zurückhalten?

Keineswegs. Die Europäer haben sehr wohl ein legitimes Interesse, den amerikanischen Neigungen in Richtung Unilateralismus zu widersprechen. Widerspruch ist ein Ausdruck von Meinungspluralismus, und der gehört zur Grundessenz des Westens. Der Westen wird pluralistisch sein, oder er wird nicht sein. Damit wären wir schon wieder bei der Türkei. Dort herrscht noch immer eine extrem nationalistische Staatsideologie. Die Türkei hat viele westliche Gesetzbücher übernommen, aber noch nicht das, was Montesquieu den Geist der Gesetze genannt hat.

Über welches Thema wir auch reden – immer kommen Sie auf den EU-Beitritt der Türkei zu sprechen. Warum sind Sie von diesem Thema so besessen?

Weil es für Europa die Nagelprobe ist. Ohne ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hat die EU keine Chance, in wichtigen politischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Die Debatte wird bei uns zu stark unter dem Primat geostrategischer Interessen geführt. Außenminister Joschka Fischer hat mehrfach die Behauptung aufgestellt, Europa sei für die Konkurrenz mit anderen Mächten einfach noch nicht groß genug.

Was ist so falsch an diesem Argument?

Die Geostrategen verwechseln räumliche Größe mit politischer Kraft. Ein Europa unter Einschluss der Türkei wäre ein Koloss auf tönernen Füßen. Es könnte sich nicht mehr auf ein gemeinsames Wir-Gefühl berufen, das eine unverzichtbare Ressource aller demokratischen Ordnungen ist.

Alle Umfragen zeigen: In ihrer übergroßen Mehrheit fühlen sich die Türken sehr wohl als Europäer.

Das ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Beitritt. Das Bild, das die türkischen Eliten von Europa pflegen, entspricht häufig dem Selbstbild Europas nicht einmal von Ferne.

Zeigt nicht die Erfolgsgeschichte der Vergangenheit, dass jede EU-Erweiterung eine positive Eigendynamik in den Beitrittsländern auslöst?

Ja, aber die EU hat davon nur Nutzen, wenn die Erweiterung nicht die Vertiefung blockiert. Die EU ist weder ein Wohltätigkeitsverein noch eine Umerziehungsanstalt. Sie hat sich auf das Ziel einer Politischen Union festgelegt und muss sich jetzt auf dieses Projekt konzentrieren. Die Vision eines Europa bis zum Euphrat ist mit diesem Ziel unvereinbar. Dieses Großeuropa ist Ausdruck eines voluntaristischen Wunschdenkens, also eines Denkens, das einseitig auf die Kraft des Willens setzt, das die eigenen Ressourcen überschätzt und die Risiken der eigenen Entscheidungen unterschätzt.

Gibt es dafür historische Beispiele?

Die amerikanischen Neokonservativen sind ausgesprochene Voluntaristen. Aber zurück zur Europäischen Union: Wenn wir das supranationale Projekt Europa aufgeben, droht eine Renaissance der Nationalismen. Das wäre eine ungewollt rückwärts gewandte Politik.

Als rückwärts gewandt empfinden viele Beobachter eher die Abendland-Rhetorik der Beitrittsgegner. Wollen Sie Europa zu einem christlichen Club machen, wie der gescheiterte EU-Kommissar Rocco Buttiglione jüngst verlangte?

Es wäre falsch, Europa als christliche Wertegemeinschaft zu definieren. Auf die Gemeinsamkeiten der politischen Kultur kommt es an. Aber wie will man die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, die früheste Form der Gewaltenteilung, erklären ohne den Rückgriff auf den Satz: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist?“ Und kann man vom revolutionären Gedanken der Gleichheit aller Menschen vor Gott absehen, wenn man den modernen Gedanken der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz historisch erklären will? Es wäre pure Geschichtsklitterung zu leugnen, dass es da christliche Wurzeln gibt – auch wenn diese Werte vom offiziellen Christentum über Jahrhunderte hinweg malträtiert worden sind.

Sollte man nicht eher sagen: Gegen die Kirche erst entstanden sind?

Dass erst die Aufklärung und die Säkularisierung diesen Werten zum vollen Durchbruch verholfen haben, ändert ja nichts an ihrem christlichen Ursprung. Es gibt eine Tradition der christlichen Selbstaufklärung, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Die Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind im Grunde säkularisiertes Christentum. Das auszusprechen, erfordert keinen Glaubensakt, sondern lediglich die Einsicht in das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Wenn sich die Türkei zu einer westlichen Zivilgesellschaft entwickelt, kann sie der EU beitreten. Das wird in 10 bis 15 Jahren aber noch nicht der Fall sein. So schnell lässt sich ein jahrhundertealtes Erbe nicht überwinden.

Zeitgleich mit der Türkei-Debatte stehen in mehreren Ländern Volksabstimmungen über die EU-Verfassung an. Nehmen Sie es bewusst in Kauf, dass Sie mit Ihrer harschen Türkei-Kritik zum Scheitern des Verfassungsvertrages beitragen?

Dieses Dilemma haben nicht die Kritiker zu verantworten, sondern die europäischen Regierungen. Der Türkei wurde auf dem EU-Gipfel in Helsinki 1999 fast schon handstreichartig, im Stil des aufgeklärten Absolutismus, und unter massivem amerikanischem Druck der Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Wer meint, Europa unter Ausschaltung der Öffentlichkeit verwirklichen zu können, der betreibt das, was Karl Marx in seiner Analyse des Bonapartismus die Verselbstständigung der Exekutivgewalt genannt hat.

Was geschieht, wenn die Verfassung durchfällt?

Scheitert sie in Großbritannien, dann werden wir eine Renaissance der Kerneuropa-Idee erleben. Scheitert sie dagegen in Frankreich, dann beginnt ein völlig neues Nachdenken über die Grundlagen der Europäischen Union. Im schlimmsten Fall kehren wir zu einem instabilen System wechselnder Allianzen zurück, wie wir es früher in Europa hatten.

In Ihrem Standardwerk „Der lange Weg nach Westen“ beschreiben Sie ein Deutschland, das endlich seinen Platz gefunden hat. War es voreilig, das Ende der Geschichte zu verkünden?

Den Glauben an ein Ende der Geschichte habe ich nie geteilt. Die deutsche Frage ist seit dem 3. Oktober 1990 territorial im Sinne von Einheit in Freiheit gelöst. Das führt aber zu der Feststellung, dass die europäische Frage offen ist – und diese Chance sollten wir nutzen.

Derzeit arbeiten Sie an einem Buch zu dieser Frage, mit dem Arbeitstitel „Der Sonderweg des Westens“. Was verstehen Sie darunter?

Ein Nachdenken darüber, warum sich Europa und Nordamerika historisch so anders entwickelt haben als andere Weltregionen – mit der Trennung von religiöser und politischer Macht, mit der Gewaltenteilung, den Menschen- und Bürgerrechten und der repräsentativen Demokratie. Das wird übrigens die Aufforderung in sich schließen, sich mit dieser Geschichte nicht triumphalistisch auseinander zu setzen, sondern selbstkritisch.

Anders als im Falle Deutschlands geht es aber nicht darum, diesen Sonderweg zu beenden?

Mit dieser Vermutung liegen Sie richtig. Was am westlichen Wertesystem univerehersal ist, wird sich hoffentlich auch weltweit durchsetzen. Aber im Sinne des herrschaftsfreien Diskurses, nicht durch voluntaristische Gewaltakte einer einzelnen Supermacht. Mit Blick auf die arabische Welt sage ich frei nach Bert Brecht: Es kann die Befreiung der Muslime nur das Werk der Muslime sein.