Der Fürst der Features

Vom „jungen Wilden“ zum Organisator des Radio- und Fernsehpreises „Prix Europa“: eine Begegnung mit Leo Braun, der vor 30 Jahren die Doku-Abteilung beim SFB übernommen hat

von GABY HARTEL

Zuerst schießen zwei Hunde um die Ecke, auf der Suche nach ihrem Herrchen. Hoch aufgeschossen, das Haar in weißen Wellen hinter den Ohren, erscheint Peter Leonhard Braun wie ein Dirigent, hier im ersten Stock des Berliner „Hotels am Studio“, das dem Prix Europa als Schaltzentrale dient. Teambesprechung zum Beginn des Radio- und Fernsehwettbewerbs, der vom 16. 10. bis 23. 10. hier stattfindet.

Oben, im Fernsehzentrum des RBB, denkt man über „Cultures Religions and Media“ nach. Unten, im Foyer des „Haus des Rundfunks“ gab’s eben noch Stress mit der Baupolizei. Leo Braun winkt ab: Festivalalltag. Er öffnet die Tür zum Büro, die Hunde folgen: „Schießen Sie los!“ Das Entree ist schwungvoll, ganz Braun’sche Dramaturgie.

So hat er auch seine legendären Radio-Features angelegt, mit denen Braun in zwanzig Autorenjahren zahlreiche Preise abräumte, bevor er dann 1974 sein „größtes Feature“ anging, wie er sagt: die Leitung der Radiodoku-Abteilung des SFB. Über sein Oeuvre schreiben andere heute Doktorarbeiten. Die Sendungen sind formal so vielseitig wie ihre Themen – es geht um Massenhühnerhaltung (1967), Catcher (1968), eine Hüftoperation, (1970) oder Glocken in Europa (1973) – und doch haben sie alle denselben Drive: Braun, der intensiv „mit den Ohren gafft“, wie er sagt, zieht uns vom ersten Ton an mittenrein.

Und zwar oft tiefer, als uns lieb ist. Seine „Hyänen“ (1971) etwa sind Lichtjahre entfernt von einer putzigen Tierstory à la Grzimek. In akustischer Großaufnahme wird vielmehr harter Radiosplatter geboten. Hyänen töten nicht einfach so, sie fressen sich durch ihr lebendes Opfer durch. Schön hört sich das nicht an! „O-Töne sind Wirklichkeit“, so Braun. Mit solchen durchaus grellen Features – auch die „Hüftplastik“ mit ihrem Sägen und Hämmern ist nicht ohne – wird die gepflegte Wohlfühlatmosphäre der Siebzigerjahre aufgemischt. Weg von der filigranen Hörfunkprosa – hin zum „akustischen Film“, wie Braun es nannte, zum direkten Radio.

Leo Braun hat dem Medium seine eigene mitreißende Qualität zurückgeben: das präzise Wort, das ikonische Geräusch, den suggestiven Soundtrack.

Seine Leidenschaft fürs Radio begann in den frühen Fünfzigerjahren, als der Student der Betriebswirtschaft beim Berliner Rundfunk Klinken putzte, um einen Auftrag zu landen. Kaum war er drin, war er auch schon wieder weg. Aus Paris und London kamen die sensationellen frühen Dokumentar-Essays, die bereits seine späteren, preisgekrönten Features antizipieren: „Ein Abend in London“ (1965) oder „London Report“ (1967) sind funkelnde Erinnerungen an die für immer versunkenen Vor-Thatcher-Ära. Dabei läuft der junge Autor durch London wie Antonionis fotografierender Held in „Blow Up“, ein Jäger der Töne, auf Hunderennen, beim Glücksspiel oder im Beat-Schuppen: Bei „Eel’s Pie Island“ hat Braun die O-Töne der entstehenden Jugendkultur eingefangen. Dieser Trip hört sich an wie eine verschollene Version von Ginsbergs Gedicht „Das Geheul“ – also unglaublich. „Nicht löschen: Rundfunkgeschichte!“, steht auf den Originalband im Archiv.

Als Braun die Feature-Abteilung des SFB zum Vorzeigebetrieb machte, wurde nebenbei über Grenzen hinweg agiert. „Weil es in einem Land nie genug Talent gibt“, gründete er 1974 mit zwei Kollegen die internationale Feature-Konferenz, die am kommenden Mittwoch mit einer „Langen Nacht“ im Rahmen des Prix Europa ihr dreißigjähriges Bestehen feiert. Seit dieser Zeit ist Braun bekannt als der „Pater Brown“ des Genres, der „gegenseitiges Lernen und Lehren“ predigt. 1983 übernahm er die Leitung des Prix Futura, 1988 die des Prix Europa (nun hauptsächlich geführt von Susanne Hoffmann).

O-Ton Braun: „Wer hohe Qualität will, braucht internationale Preise.“ Der Spitzname „Pater Brown“ allerdings verharmlost Brauns Wirkung. Wehe, ein Stück ist ihm zu betulich, verkopft oder verträumt! Dann hagelt es diese berühmten Sätze, vor denen man schon gestandene Rundfunkgrößen hat zittern sehen. „Die Medien sind schnell, da kannste nicht drauf warten, dass einer aufwacht“, sagt Braun dazu.

Was, wenn der scharfe Kritiker heute wieder selbst Features machen würde? Langer Blick in den Berliner Nieselregen: „Ich würde erst mal die Managerfaust entspannen. Schreiben kannste nur mit der geöffneten Hand.“ Nach einer Pause meint er noch: „Heute würde ich wahrscheinlich flüstern.“