Egon Bahr über die chinesische Politik: "Es schweigt doch niemand"

Ein Gespräch mit Egon Bahr über Wandel durch Annäherung, Ai Weiwei und die Kunst der Aufklärung. Der SPD-Politiker plädiert für Geduld im Umgang mit China.

Das Prestige einer Großmacht zu verletzen könne einem Künstler wie Ai Weiwei eher schaden als nutzen, sagt Egon Bahr. Bild: ap

taz: Herr Bahr, brauchen China und die Chinesen Nachhilfe in der Kunst der Aufklärung?

Egon Bahr: Sie spielen auf den Titel der Ausstellung an. Auf die historische Epoche im 18. Jahrhundert. Die war damals umstritten. Heute ist sie das nicht mehr. Ob die Chinesen sie als stille Aufforderung empfinden werden, sich dieser Aufklärung zuzuwenden, werden sie selbst entscheiden. Jedenfalls ist es für sie ungewohnt, um es einmal milde zu sagen.

Die Inhaftierung des Künstlers Ai Weiwei und vieler anderer spricht nicht gerade für einen aufgeklärten Umgang mit den Kritikern im eigenen Land.

Das demonstriert die Nervosität der Regierung in Peking. Was damit zu tun haben könnte, dass wir in der Zeit des unbegrenzten Netzes leben. Das hat die arabische Welt destabilisiert. Seine Auswirkungen reichen bis nach Deutschland. Ohne das Netz wären die Betrügereien von zu Guttenberg nicht so schnell aufgeflogen. Und die Petition mit 25.000 Unterschriften für Angela Merkel nicht zustande gekommen. Diese Signale hört man auch in China. Trotzdem möchte ich zwischen diesem Fall und den Erfahrungen, die wir seinerzeit gemacht haben, unterscheiden. Salman Rushdie hat sie vor Kurzem so formuliert, dass kein System überlebt hat, das versucht hat, die Kunst beziehungsweise die Künstler zu eliminieren. Und er hat dabei an die Sowjetunion erinnert.

Wer war zur Zeit der Entspannungspolitik Ihr Ai Weiwei?

geboren 1922 in Thüringen. 1960 wechselte der Journalist als Pressesprecher in den Berliner Senat unter Willy Brandt. Bahr gilt als "Architekt" der Entspannungspolitik der siebziger Jahre. 1976 schied er aus der Bundesregierung aus. Von 1984 bis 1994 war er Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg.

1970 hieß unser Ai Weiwei Alexander Solschenizyn. Die Sowjetunion hat damals sogar Nobelpreisträger nicht ausreisen lassen. Und Solschenizyn war gefährdet. Wir haben ihn herausgebracht. An allen öffentlichen normalen Regelungen vorbei. Bei Lew Kopelew hat es etwas länger gedauert. Und danach habe ich angefangen, mit meinen Gesprächspartnern über Sacharow zu reden. Das war abrupt zu Ende, als der amerikanische Präsident Carter öffentlich erklärt hat, er mache Sacharow zu seiner persönlichen Sache. Meine Gesprächspartner kamen dann zu mir und haben erklärt, es sei ihnen verboten worden, über Sacharow zu reden. Sie haben maliziös hinzugefügt: Wir werden mal sehen, wie weit er kommt. Wir wissen, wie weit er gekommen ist. Erst der dritte Nachfolger von Breschnew, Michail Gorbatschow, hat ihn aus der Verbannung entlassen. Mit anderen Worten: Wenn ich das Prestige einer Großmacht verletze, kann es sein, dass das, was zum Nutzen eines Inhaftierten dienen sollte, zu seinem Schaden wird.

Ist es nicht eine Frage der Selbstachtung, ein deutlicheres Signal für Menschenrechte und Kunstfreiheit zu setzen?

Es schweigt doch niemand. Die Solidarisierung mit Ai Weiwei ist einmütig. Ich kenne niemanden, der den Appell zu seiner Freilassung jetzt nicht unterstützt. Aber die Frage ist, wie weit wir kommen. Was hat das mit der Ausstellung in Peking zu tun? Noch eine Erinnerung: Wir haben damals den Sowjets eine Ausstellung von Günther Uecker zugemutet. Seine Nagelbilder waren ja sogar in Deutschland umstritten. Aber sie haben sie zugelassen. Sie haben zwar den Kopf geschüttelt. Aber doch zugelassen, dass Interessierte dort hingegangen sind und sich ihr eigenes Bild gemacht haben, eine eigene Meinung gebildet haben. Ich bin der Auffassung dass man denen dankbar sein sollte, die diese Ausstellung gemacht haben. Das ist in jedem Fall ein Verdienst. Und ich finde es, gelinde gesagt, provinziell, wenn man überlegt, ob man die Ausstellung zurückziehen soll. Im schlimmsten Fall ist es kontraproduktiv.

Aber es war schon eine Provokation, zum Zeitpunkt der Eröffnung der Ausstellung einen der bekanntesten chinesischen Künstler zu verschleppen …

Natürlich war es das. Aber was sollen wir machen? Wir stehen doch vor der Entscheidung: Entweder wir lassen das geschehen. Oder wir ziehen uns zurück. Das würde eine langfristige Politik kultureller Zusammenarbeit erschweren. Für die man einen langen Atem braucht. Außerdem: Zu unserer verbalen Empörung kann die chinesische Regierung schweigen. Ich rate dazu, das mit großer Gelassenheit zu sehen.

Passt Ihr Konzept "Wandel durch Annäherung" wirklich auf die gegenwärtige Situation? Das stammt doch aus der Zeit des Kalten Krieges …

Jedenfalls passt es mindestens insofern dazu, als es Gelassenheit und langen Atem braucht. Große Mächte haben nun einmal die Eigenschaft, sich nicht öffentlich provozieren lassen zu wollen. Wenn ich damals mit den Sowjets über unser Menschenbild hätte reden sollen, wäre das de facto dem ideologischen Versuch gleichgekommen, dass die Gesprächspartner ihr Menschenbild aufgeben sollen. Und das ist von einer Großmacht nicht zu verlangen. Das ist einfach töricht. Und das gilt heute für China genauso.

Aber was ist dann die Veränderungshoffnung in einem Kulturdialog des langen Atems?

Die Zeit. Sie wird weisen, ob Rushdie recht hat, dass kein Regime die Kunst überleben kann.

Haben wir die Zeit? Ein Effekt der Entspannungspolitik war doch, dass sie die Eliten stabilisierte. Der Alltag wurde für die Menschen kaum freizügiger.

Das ist richtig. Ich möchte nur wissen, ob es ein anderes Konzept gegeben hätte, das erfolgreicher gewesen wäre. Unser Konzept war es. Wir wussten doch, dass in dem Moment, in dem wir mit Breschnew und Gromyko geredet haben, viele Leute unrechtmäßig in Haft saßen. Und wir konnten denen nicht helfen. Bis auf einzelne Fälle. Man kann sehr leicht über Menschenrechte reden. Aber wichtiger war für mich immer, einzelnen Menschen zu helfen. Das war mein Weg. Und das kann auch nur der Weg gegenüber China sein.

Ist es nicht trotzdem naiv, zu glauben, die Supermacht China würde sich auf ein Konzept einlassen, deren erklärtes Ziel die Veränderung, ja Untergrabung ihrer Macht ist?

Die Chinesen werden selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen. Sollen wir deshalb die Kontakte etwa abbrechen? Nein, wir waren damals froh, dass die Wirtschaft ihren Interessen folgt. Und dabei de facto unser Konzept unterstützt hat. Das gleiche gilt heute. Sogar für Amerika.

Die neuen Zauberworte der internationalen Politik heißen "Soft Power" und "Cultural Diplomacy", eine sanfte Macht, ohne wirtschaftlichen Druck oder militärische Drohungen. Reicht Kultur tatsächlich dorthin, wo die Politik machtlos ist?

Ja. Es ist das Einzige, was so weit reicht. Sollen wir denn die klassischen Machtmittel einsetzen? Wollen wir Krieg machen? Wollen wir versuchen, China zu isolieren? Das wäre doch alles hirnverbrannt.

Mir fällt ein Beispiel erfolgreicher Cultural Diplomacy ein. Der Kölner Kunstsammler Peter Ludwig. Er hat die Deutschen sowohl mit der amerikanischen Pop-Art konfrontiert als auch mit der DDR-Malerei. Und so ihr Weltbild verändert.

Es gibt Prozesse, die sich der Entscheidung von Regierenden entziehen. Denken Sie an die "innere Einheit" in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit in Ost und West führt zu einer Abstimmung mit den Füßen. Das ist die stille, ungeheure Kraft einer neuen kulturellen Realität. Und ich kann das Wort von Jean Monnet, dem Begründer der Europäischen Bewegung, nicht vergessen. Wenn er damit noch mal anfangen müsste, würde er mit Kultur anfangen und nicht mit Kohle und Stahl, hat er einmal gesagt.

Wo sind die Grenzen der Zusammenarbeit? Meinhard von Gerkan, der Architekt des neuen Pekinger Nationalmuseums, bewundert die großen Aufbauleistungen der chinesischen Regierung und hält die Forderung, nicht für sie zu arbeiten, für "weltfremd". Hat er zu viel Empathie für die Regierenden?

Nein, hat er nicht. Ich unterstütze ihn absolut. Denn es ist doch eine ungeheuerliche Leistung dieses chinesischen Systems, unter dem ich nicht leben möchte, dass es zum ersten Mal dafür gesorgt hat, dass es in diesem Riesenland keinen Hunger mehr gibt. Die Vorstellung, in diesem Land herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, weil Menschen hungern, ist doch für die ganze Welt abschreckend.

Darüber darf man aber die Solidarität mit den bedrängten Individuen nicht vergessen …

Ich bin doch nicht dafür, dass man sich desolidarisiert mit Ai Weiwei. Die Frage ist nur, wie kann man ihm am besten helfen, statt ihm vielleicht zu schaden.

Sollen die deutschen Museen die Ausstellung abbrechen?

Auf keinen Fall.

Sie haben die Entspannungspolitik als die "Politik der kleinen Schritte" bezeichnet. Welcher Schritt wäre jetzt der angemessene nächste?

Die Ausstellung genauso, wie sie ist, auch genau für diese Dauer, laufen lassen. Und sich daran zu erinnern, dass dort, wo die Gewalt ausscheidet, mit Gewaltfreiheit die Stärke der Schwachen beginnt. Und gegenüber China sind wir nur begrenzt stark.

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