„Ich wollte das in aller Härte“

Ein Interview mit dem Schriftsteller Uwe Timm über sein Buch „Am Beispiel meines Bruders“ und die Aufarbeitung deutscher Vergangenheit am Beispiel seiner eigenen und überaus normalen Familie

von GERRIT BARTELS

Herr Timm, beim Verlag hieß es anfangs, sie würden zur Veröffentlichung Ihres neuen Buches „Am Beispiel meines Bruders“ möglicherweise keine Interviews geben. Warum?

Uwe Timm: Das war wohl ein Missverständnis. Ich werde aber aus dem Buch nicht öffentlich vorlesen. Dafür eignet es sich nicht allzu gut, dafür sind einige Stellen für mich doch zu emotional besetzt.

Angesichts der Privatheit und Offenheit des Buches kann man sich jedoch gut vorstellen, sie hätten ganz auf Öffentlichkeitsarbeit verzichtet und würden das Buch für sich allein sprechen lassen. Wie ist das, die eigene Familiengeschichte in Gesprächen wie diesen noch einmal aufzurollen?

Damit habe ich keine Schwierigkeiten. Das Ganze ist sozusagen abgearbeitet, in Sprache geformt, da hat man genug Distanz. Es hat mir gewiss Erleichterung verschafft, als das Buch fertig war. Andererseits finde ich persönliche Offenheit sehr wichtig. Zum Beispiel, dass ich aus unserem kurzen Gespräch vor diesem Interview von Ihnen weiß, was Ihr Vater von Beruf ist oder dass Sie einen Bruder haben. So eine Offenheit kann unsere Gesellschaft, unseren Umgang miteinander, nur positiv beeinflussen.

Sie schreiben, dass Sie mehrmals vergeblich den Versuch gemacht hätten, über ihren 1943 im Krieg gefallenen Bruder Karl-Heinz zu schreiben. Von einem „ängstlichen Zurückweichen“ ist die Rede. Wovor hatten Sie Angst?

Zu so einem Buch gehört ein langer emotionaler Vorlauf, eine gewisse Erfahrung. Es dauert, bis die Erinnerungsprozesse in Gang kommen. Ich habe zwei Jahre ausschließlich an diesem schmalen Buch gearbeitet. Ich wollte immer über meinen Bruder schreiben, dessen Briefe ich schon als Jugendlicher gelesen hatte. Ich fand es nur erschreckend, beim Schreiben womöglich mehr Negatives über ihn zu erfahren. Etwa dass er nicht nur bei dieser Einheit der Waffen-SS gekämpft hat, sondern auch aktiv bei Partisanen- oder Judenerschießungen dabei war.

Was aber nicht der Fall war?

Ich weiß es nicht, auszuschließen ist es nicht. Das andere war die Mitleidlosigkeit, die aus seinen Briefen sprach, vor allem diese eine Stelle: „Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG“, die ich ungeheuerlich fand und mich jedes Mal davon abhielt weiterzulesen.

Nun ist Ihr Bruder nicht gerade der Mittelpunkt, er schwebt mehr über dem Ganzen.

Ich war drei Jahre alt, als er starb, und habe nur eine äußerst blasse Erinnnerung an ihn. Trotzdem war er in unserer Familie ständig präsent, als Druck, als atmosphärischer Druck. Karl-Heinz galt immer als Vorbild, das im Krieg als Held gestorben war. Das wurde so nicht gesagt, aber in der Vermittlung galt er als tapferer, anständiger, gehorsamer Junge. Das gaben meine Eltern an mich weiter, als Erziehungsdruck sozusagen, und dem wollte ich auf den Grund kommen. So was braucht Zeit.

Sie haben also den Versuch unternommen, sich biografisch zu verorten und dabei gleichzeitig eine Durchschnittsfamilie zu beschreiben, die sich mitschuldig gemacht hat?

Das ganze Umfeld ist ja sehr wichtig. Letztlich bewegte dieses Umfeld meinen Bruder auf eine sanfte Art, sich freiwillig bei der Waffen-SS zu melden. Natürlich finde ich die Leute interessanter, die sich widersetzt haben, eine tolle Sache!, aber in meiner Familie war das nicht so. Aus dem kurzen Leben meines Bruders ergeben sich viele Fragen auch für mich: Woher komme ich? Was für eine Erziehung habe ich genossen? Was steckt davon heute noch in mir? Und, ganz wichtig: Wie hätte ich gehandelt? Ich würde es mir zwar wünschen, aber ich kann leider nicht sagen, ich hätte mich ganz verweigert.

Sie schreiben auch, erst nach dem Tod ihrer Mutter und dem ihrer älteren Schwester hätten Sie sich frei gefühlt, dieses Buch zu beginnen.

Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter, die eine ganz große Frau war, das muss man mal so sagen. Ich wollte ihre Gefühle nicht verletzen, das stimmt, denn das Buch handelt schließlich viel von meinem Vater, der von ihr merkwürdigerweise nie in Frage gestellt wurde.

Das Buch liest sich zuweilen wie eine Abrechnung mit dem Vater, hat aber auch sehr zärtliche Momente. Es wirkt dann wie eine sensible Annäherung.

Die intensive Auseinandersetzung mit dieser Vaterfigur ist eines der wichtigsten Produkte des Schreibens gewesen. Ich wusste anfangs nicht, was herauskommen würde. Es ist aber durch diese Erinnerungsarbeit und mit dem zeitlichen Abstand ein großes Verständnis für ihn entstanden. Wie wenig ich von seiner Kindheit weiß, wie wenig er erzählt hat! Gerade bei dieser Geschichte mit dem Raben, den er als Kind gezähmt haben und mit dem er dann auf der Schulter herumgelaufen sein soll, wurde mir bewusst, wie einsam er als Junge gewesen sein muss, wie er sich dann später hochgeboxt haben muss.

Sind Ihnen gerade im Bezug auf ihren Vater auch Versäumnisse bewusst geworden?

Das ist im Nachhinein schwer zu sagen. Mein Vater ist einfach zu früh gestorben, da war ich 18 Jahre alt, vielleicht hätte sich unser Verhältnis anders gestaltet. Mit 18 habe ich harte Gefechte mit ihm ausfechten müssen. Ich hatte große Probleme mit seinem autoritären Verhalten, und eine der zentralen Fragen war natürlich, wie er sich, der ja nicht in der Partei war, unter den Nazis verhalten hat. Nur gab es darauf keine Antwort von ihm. Für ihn war ich nicht auf Augenhöhe, ein Kind noch. Und das, obwohl ich als Kürschnergeselle handwerklich bald besser war als er, was natürlich auch viel Konfliktpotenzial barg. Schließlich hat er den Beruf des Kürschners nur erlernt, weil er eine Nähmaschine in den Trümmern gefunden hatte. So war das eben 1945, das sind ja lauter spannende und eigenartige Geschichten.

Trotzdem haben Sie keinen Roman über Ihre Familie geschrieben.

Das hätte ich nicht gekonnt, das war mir sehr früh klar. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, meine Eltern zu fiktionalisieren. Ich wollte strikt trennen zwischen Fiktionen und dem, was wirklich war. Es gibt ja so Wunschvorstellungen, die einem beim Schreiben eines solchen Buches leicht reinlaufen. Ich wollte das in aller Härte.

Geht es Ihnen wie Wolf Biermann, der sagt, über seine Erlebnisse während des Feuersturms 1943 in Hamburg könne er keinen Roman schreiben?

Vielleicht. Diese Erinnerungen sind Bruchstücke, die können nicht durchlaufend erzählt werden, weshalb ich auch diese Methode der kurzen Absätze gewählt habe. Die Dokumente und Erinnerungen sprechen für sich. Man merkt ja sehr gut in den Briefen und Tagebüchern meines Bruders, wie ihm die Möglichkeit, in der Sprache Gefühle auszudrücken, gefehlt haben. Mitleid mit sich selbst wäre aber auch eine Voraussetzung gewesen, Mitleid mit anderen zu haben. Das ist doch fürchterlich: Da werden ihm beide Beine abgeschossen, und er ist immer noch der brave, tapfere Junge, der seinen Eltern schreibt, sie sollten sich keine Sorgen machen! Hätte er die Möglichkeit gehabt, sich besser auszudrücken, wäre ihm das Fragenstellen nicht von Staats wegen ausgetrieben worden, hätte er vielleicht auch mal „Nein“ sagen können.

Man merkt an vielen Stellen des Buches Ihre Ambivalenz. Es ist sehr persönlich, man fühlt mit als Leser, Sie bauen aber immer wieder bewusst distanzierende Momente mit ein. Etwa wenn Sie Ihre Ausbombung in Hamburg schildern, das aber mit dem Satz unterbrechen: „Juden war das Betreten des Luftschutzraums verboten“.

Ja, richtig. Das mache ich auch wegen aktueller Diskussionen. Ich schätze es gar nicht, wenn man in Deutschland versuchen sollte, sich eine kollektive Opferrolle buchstäblich zu erarbeiten. Natürlich soll man Verständnis haben mit den Vertriebenen und trauern um die Bombenkriegsopfer, aber man sollte die Gewichte nicht verschieben. Man kann nicht relativieren, was an Grausamkeiten von den Nazis und den Deutschen ausgegangen ist.

Glauben Sie denn, dass es ein Erzähltabu gab, wie es W. G. Sebald in den späten Neunzigern tat. Dass das Schweigen gar eine Scham verbarg, eine These, die Klaus Harprecht aufgestellt hat?

Das mit der Scham halte ich für Unsinn. Es ist geradezu schamlos über die Ereignisse geredet worden. Auch Sebalds Thesen stimmten einfach nicht. Hans Erich Nossacks Buch „Der Untergang“ war ein zentrales Buch, eine unglaubliche Beschreibung auf nur neunzig Seiten von der Bombardierung Hamburgs, mit einer unglaublichen Schärfe und in einer hohen literarischen Form.

Für Sebald hatte Nossacks Buch keinen künstlerischen Wert.

Ich habe das Buch damals als Student gelesen, mir ist das als sehr wohl kritischer und literarisch interessierter junger Mensch nicht aufgefallen. Aber man findet in vielen Büchern Schilderungen des Luftkriegs, bei Kluge, bei Ledig, auch in meiner Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“.

In Ihrem neuen Buch äußern Sie immer wieder Ihr Unwohlsein darüber, wie die mündlichen Erzählungen den Schrecken „domestizieren“ würden.

Diese Erzählungen begleiteten mich seit meiner Kindheit. Obwohl es um Bombennächte, Vertreibung und Fronterlebnisse ging, veränderten sich diese Erzählungen im Lauf der Jahre zu einer wohlfeilen Unterhaltung. Ich selbst wollte das vermeiden und nicht auf so eine nett-anekdotenhafte Art schreiben. Andererseits gab es die, die alles totschwiegen, die gar nichts erzählten.

Dazwischen gab es nichts?

Das waren die Extreme. Es gab nur wenige, die mit ihrem Sprechen über den Krieg versucht haben, zu verstehen, die das nicht so abgehakt haben, die gefragt haben: Woher kam das? Warum habe ich mich so verhalten? Das hätte ja zu Bewusstseinsveränderungen führen können.

Was bei Ihren Eltern nicht der Fall war.

Bei meiner Mutter schon, auch wenn das kein wirklich kritisches Verstehen war, eher so eine Art unmittelbare Menschlichkeit. Es quälte sie, dass sie nie nachgefragt hatte, wo denn die jüdischen Nachbarn abgeblieben waren. Das wäre der Anfang gewesen, sich über genau so was zu verständigen. Mit einem hartnäckigen Nachfragen fängt alles an. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man sich entwickeln kann.

Am Ende räumen Sie ein, fast ein bisschen resigniert, noch immer an den Wünschen des Vaters zu arbeiten.

Dieser Satz beruht auf der Lektüre von Alice Millers „Drama des begabten Kindes“. Es gibt eben noch bestimmte Kraftfelder, mit denen ich zu tun habe, Wünsche, an denen ich arbeite und die mir teilweise gar nicht bewusst sind. Diese Ansprüche, die mein Vater hatte, etwas sehr gut zu machen, das Optimale rauszuholen, Haltung zu bewahren, die hat man selbst doch sehr internalisiert. Die gebe ich, stark gebrochen zwar, leider oft auch an meine Kinder weiter.