Amokprosa auf Sylt

Der österreichische Autor Franzobel schlachtet die Wirklichkeit, die abfallenden Realitätspartikel fügt er zu einem Welttheater von barocken Ausmaßen. Genau der Richtige, um als Stipendiat der Stiftung „kunst:raum sylt quelle“ die Insel zu bereichern

VON MICHAEL QUASTHOFF

Thomas Mann hat an diesem „erschütternden Meere tief gelebt“. Max Frisch sprang einfach hinein und „fand es herrlich“. Siegfried Jacobsohn, erstmals 1920 wegen der Bronchien angereist, wollte gar nicht mehr weg. Er lag halbe Jahre am Strand und redigierte seine Weltbühne. „Sylt“, schrieb er an Freund Tucholsky, ist „tausendmal schöner als Wangeroog“. Also fuhr auch Tucho hin und kam immer wieder, wie vor ihm Robert Musil, Gerhard Hauptmann, Carl Zuckmayer, Emil Nolde oder Alexander von Jawlensky. Ja, kaum glaublich, Sylt war tatsächlich mal eine Insel der Künstler. Das ist allerdings lange her. Mitte der 1960er Jahre degenerierte Sylt zum FKK- und Feten-Dorado mikrozephaler Gernegrößen, die im Gefolge des Boulevardkönigs Axel Springer den Strand verheerten. Quasi als Restposten einer besseren Zeit ashavert nur mehr „Old Edelfeder“ F. J. Raddatz durch Kampen. Im Handstreich taufte er das intellektuell verwaiste Eiland „mein Sylt“ und vermarktete seine Urlaubserlebnisse zwischen zwei Buchdeckeln.

So konnte es nicht weitergehen, befanden die Ureinwohner. Seit 2001 spendiert die Stiftung „kunst:raum sylt quelle“ alljährlich 5.000 Euro, um das kulturelle Niveau von einem „Inselschreiber“ heben zu lassen. Genutzt hat es wenig. Preisgekrönte Schlafpillen wie Juli Zeh, Jenny Erpenbeck oder Thomas Hettche bissen sich an der Mission Impossible die Zähne aus. In diesem Jahr soll es der wilde Alpendichter Franzobel richten. Wenn der „Poesiepyromane“ (Eigenwerbung) auf die „Fischköppe“ trifft, dürfte es spannend werden. Die Jury überzeugte Franzobel mit einem Text zum Thema „Moderne Märtyrer“. Der Protagonist imaginiert im Zuge einer Seilbahnfahrt, wie seine Reisegefährten – befallen von klaustrophobischen Wahn – den Fahrzeugführer buchstäblich in Stücke reißen.

Amokprosa dieser Art gehört zum Standardrepertoire des 1967 geborenen Österreichers. 1995 verlieh man Franzobel den Bachmann-Preis, weil das Gros der Kritiker vor einer wüst expressiven Lautmalerei namens „Krautflut“ schlichtweg kapitulierten musste (O-Ton: „Es ist besser, wenn man nicht meint, man versteht es“). Lichtere Köpfe wie Verena Auffermann sahen einen „neuen Jandl in großer Prosaform“ am Werk. Damit ist die Spannweite der Franzobel-Rezeption bis heute exakt vermessen.

Der Mann „hasst Literatur, die man nacherzählen kann“ und so sieht sein Oeuvre (neun Romane, siebzehn Theaterstücke, diverse Gedichtbände, ungezählte Feuilletons samt profunden Fußballexegesen) auch aus. Es sind mit barocker Fabulierlust, Comicdramaturgie und semantischem Furor inszenierte, mit Genrezitaten, Metaphernlawinen und diabolischem, gern auch pubertärem Aberwitz gepfefferte Schlachtungen der Wirklichkeit.

Da spritzen die Sekrete, Fäkalien dampfen, es wird gevögelt, betrogen, abgemurkst und um Kopf und Kragen schwadroniert, solange, bis jeder Sinn püriert und der letzte Handlungsstrang zur Wellwurst gepresst ist. Seine Figuren, die Immaculata Mösenspreizer, Tanja Speckhobel, Böselraut oder Patricia Vorhautinger heißen, kneten Kleinplastiken aus Ohrenschmalz, lutschen am dritten Gebiss der Hörbiger und basteln Fötenwurst für Extremsportler; sie debattieren mit der Fauna oder bringen es wie Oswald Wuthenau fertig, Hitler zu verehren, mit der Brecht-Medaille der DDR behängt zu werden und dennoch grundsympathisch rüberzukommen.

Man liest Franzobels bis zu 400 Seiten umfassende Pandämonien, besonders die Romane „Scala Santa“ (2000), „Das Fest der Steine“ (2005) und „Liebesgeschichte“ (2007) mit großem Vergnügen und philosophischem Gewinn, denn sofern der Autor alles im Griff hat (was meistens der Fall ist), fügen sich die grotesken Realitätspartikel am Ende zu einem hyperrealen im Glanz und schönem Wahn erstrahlendem Welttheater. Der schnöden Wirklichkeit geschieht das nur Recht, findet Franzobel. Das wahre Leben sei „grauslich, schmutzig, blutig, brutal“. Folglich interessiert ihn als Material vor allem „das Verdrängte, das Unverheilte“. Schon als Kind habe er an den Eiterkrusten seiner Kniewunden herumgekratzt. „Wunden bringen mich aus dem Konzept, aber auch die Idylle und die Idee der Schönheit funktionieren besser vor der Folie der Grausamkeiten. Vielleicht ist das barock? Katholisch? Sicher hat es mit meiner Wahrnehmung zu tun.“

Die sei, so Franzobel, geprägt durch „einen legasthenischen Vater und eine nicht muttersprachlich deutsch sprechende Frau“, neben Drogen, Pink Floyd, Asterix, Mad, Kierkegaard, Heidegger und Heimito von Doderer versteht sich. Außerdem habe er eine „ziemliche Klaue, was bei Entzifferung der handschriftlichen Entwürfe meist einigen poetischen Ertrag abwirft“. Wer noch die Sprachartistik der Wiener Gruppe um Artmann, Jandl und Rühm dazu denkt, fühlt sich im Franzobel’schen Parallel-Universum bestens aufgehoben.

Wir hoffen inständig, dass es dem Inselschreiber auf der Sylter Sandbank ähnlich geht. Das heißt, zumindest besser als bei seiner letzten Begegnung mit dem homo teutonicus in Austrias Bergen: „Dabei saßen deutsche Sommerfrischler, die aussahen, als hätte Beuys sie hingelegt. Fette Stuhlablagerungen.“