Flaschensammeln am Rande der EM: Bücken und Buckeln

Das Geschäft der Flaschensammler boomt gerade zur EM-Zeit. Soziologen sprechen von einem „gesamtgesellschaftlichen Phänomen“.

Flaschensammler müssen nicht immer am Rande der Gesellschaft stehen. Bild: ap

BERLIN dapd | Gerd sitzt vor dem Eingang zur Berliner Fanmeile und sortiert seine Beute. Sorgsam pult er die Etiketten von den Faschen in der pinkfarbenen Plastikkiste auf seinem Schoß und lächelt in die Abendsonne. Zum Strahlen hat der Berliner mit dem grauen Spitzbart und der Deutschlandkappe an diesem Tag auch allen Grund. Denn wenn sich hier hinter der Absperrung gleich Hunderttausende Fußballfans zur schwarz-rot-goldenen Fußballfete vor der Großleinwand am Brandenburger Tor treffen, hat Gerds Gewerbe Hochkonjunktur.

Gerd, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist Pfandsammler, und zwar einer mit ausgeklügeltem Marketingkonzept: Er betreibt die „erste mobile Flaschen-Annahme“. So steht es auf dem handgeschriebenen Pappschild, das die Frontpartie seines Rollstuhls ziert. In seinem Gefährt sitzt Gerd an diesem Tag vor dem Eingangsbereich der Berliner Fanmeile. Glasflaschen sind hinter der Barriere gar nicht, Plastikflaschen nur eine pro Besucher erlaubt. Gut für Gerds Geschäfte. Säuberlich sortiert liegen die von ihm aufgesammelten Flaschen in seiner Kiste wie die Ölsardinen in der Büchse. „Alles Fuffzehner“, erläutert Gerd. „Ein paar 25er sind auch dabei.“

„Fuffzehner“. So heißen im Fachjargon der Flaschensammler die Plastikflaschen aus dem Coca-Cola-Konzern. Pfand- und Sammlerwert: 15 Cent. Sie aufzulesen, um sie zu Geld zu machen? Auf den ersten Blick ein mühsames Geschäft. Nicht für Gerd. „Wenn Sie mal durchzählen wollen“, sagt er. „13, 14, 15 Flaschen.“ Macht mal 15 Cent unterm Strich 2,25 Euro. Nicht schlecht für vier Stunden Sammelarbeit, sagt er. Bierflaschen dagegen bringen nur acht Cent. Sie kosten wertvollen Platz in der Kiste. Also lässt Gerd sie lieber links liegen oder schenkt sie seinen Kollegen.

Aber lohnt sich für sie die Mühe, das Wühlen in Müllkübeln, das stundenlange Bücken und Buckeln, das Krummmachen für ein paar Euro? „Offensichtlich schon“, sagt der Soziologe Sebastian Moser, der sich seit 2006 wissenschaftlich mit diesem Phänomen beschäftigt. Kürzlich hat er zu diesem Thema eine Doktorarbeit an der Universität Freiburg vorgelegt. Im Zuge seiner Recherche hat er 20 Flaschensammler in deutschen Großstädten auf ihren Streifzügen begleitet. Aber: „Kein Pfandsammler, mit dem ich gesprochen habe, bestreitet zu 100 Prozent seinen Lebensunterhalt nur aus Pfandsammeln“, berichtet Moser.

Erinnerung an Erwerbsarbeit

Doch der Lohn der Mühe ist nicht nur Geld. Fast genauso wichtig wie der finanzielle Gewinn sei es, „einer Tätigkeit nachzugehen, die an Erwerbsarbeit erinnert“, sagt Moser. Dazu komme für viele „die Möglichkeit, am sozialen Leben teilzunehmen“. Das kann Gerd, der Praktiker, bestätigen: „Das ist Bewegungstherapie und man kommt unter Leute“, erzählt er. „Das kann schon lustig sein.“

Aber Geduld und gute Augen zahlen sich unter Umständen auch aus. Die Verdienstmöglichkeiten für Flaschensammler schwanken, je nach Ort und Jahreszeit. Im Winter liefen die Geschäfte eher schlecht, sagt Gerd, weil die Leute da lieber zu Hause oder in der Kneipe trinken. Sommerliche Großveranstaltungen wie Musikfestivals und Fanfeste sind dagegen ein gefundenes Fressen.

„Leute, die jetzt auf der Fanmeile unterwegs sind, werden natürlich einen Tagesverdienst haben, der weiter über dem liegt, was sie zum Beispiel an einem Januar-Montagnachmittag in Kreuzberg verdienen können“, gibt der Pfandforscher zu bedenken. „Ich habe mit Leuten gesprochen die 1,50 Euro pro Tag verdienen, und andere, die angeben, 200 bis 250 Euro pro Monat zu verdienen.“

Alle Schichten der Gesellschaft

Möglich gemacht hat das Geschäft mit leeren Dosen und Flaschen, das schnell zur Massenbewegung wurde, die rot-grüne Bundesregierung mit der Einführung des Einwegpfands 2003. Dies führte zwar nach Ansicht des Mehrwegverbandes Genossenschaft Deutscher Brunnen und der Deutschen Umwelthilfe nicht zu nachweisbaren Auswirkungen auf die Umweltbilanz der fünf Milliarden Flaschen, die nach Schätzungen von Branchenkennern zeitgleich im Umlauf sind, wohl aber zum Entstehen des Phänomens „Flaschensammler“. Diese rekrutierten sich entgegen den gängigen Klischees aus allen Schichten der Gesellschaft, sagt Moser.

Sie alle sind Mitspieler in einem in sich geschlossenen Schattenwirtschaftssystem, das eigenen Regeln gehorcht. Dazu gehörte bisher auch, dass der eine Sammler dem anderen kein Auge aushackt, wie Gerd berichtet. Aber auch immer mehr gewerbliche Pfandsammler, die das Altglas gleich in Kleintransportern abtransportieren, werden in jüngster Zeit von ihm gesichtet. Sie kämen meist von außerhalb und machten auch vor dem Plündern von Großcontainern nicht halt. Bei den Pfandsammlern der ersten Stunde sind sie nicht sonderlich beliebt. „Schlecht fürs Image“, sagt Gerd.

Er kommt nicht mehr dazu, die Begründung nachzuliefern, denn der Schiedsrichter auf der Großleinwand bläst in diesem Moment in seine Pfeife: Halbzeitpause für die Fußballfreunde auf der Fanmeile, Feierabend für Gerd, den Flaschensammler. Jetzt wird er nach Hause fahren, die Tagesausbeute sortieren, um sie am nächsten Tag am Pfandautomaten im Supermarkt zu barer Münze zu machen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.