Über offene Arme und tote Fische

Mit Ansage Bisher sorgte er auf dem Donaufestival für eine überraschende Mixtur aus Pop und Performance, jetzt lautet sein Auftrag Erneuerung der Wiener Festwochen: die Konzepte von Tomas Zierhofer-Kin

Tomas Zierhofer-Kin setzt auf Popdiskurse und kündigt den Klassiktempeln Foto: Markus Morianz

von Uwe Mattheiß

Mit dem Fortschritt ist es in Wien so eine Sache. Erst hört man lange nichts von ihm, dann soll es ganz schnell gehen. Was folgt, ist oft nicht so sehr das Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, vielmehr Ausdruck eines nach Möglichkeit vernünftigen Waltens der Obrigkeit.

Bei den Wiener Festwochen, mit einem öffentlichen Zuschuss von 10,5 Millionen Euro eines der großen und ältesten europäischen Festivals, soll der neue Intendant Tomas Zierhofer-Kin ihn nun wiederbeleben, den Fortschritt, der sich in und nach der Ära des verstorbenen Schweizer Theatermachers Luc Bondy (in Wien von 1998 bis 2013) in den theatralen Hochglanz verflüchtigt zu haben schien. Zierhofer-Kin, Jahrgang 1968, Kulturmanager mit klassischer Gesangsausbildung und seit 2005 Intendant des niederösterreichischen Donaufestivals im Wiener Umland, übersetzte schon lange vor Beginn seiner ersten Spielzeit am 12. Mai seinen impliziten kulturpolitischen Auftrag für die kommenden fünf Jahre in explizite Ansagen.

Sie betrafen zunächst das Budget und das Verhältnis zu anderen Großinstitutionen im Kulturbetrieb der Stadt. Die langjährige Kooperation mit den Wiener Klassiktempeln Konzerthaus und Musikverein vorerst aufzukündigen, war eine seiner ersten Handlungen als Intendant. Auch gehören aberwitzige Bräuche, etwa die pompöse jährliche Festwocheneröffnung auf dem Wiener Rathausplatz, die so herzlich wenig mit dem zu tun hatte, was KünstlerInnen und Publikum des darauffolgenden Festivals umtrieb, nun der Vergangenheit an.

Von der Praxis der Ära Bondy, in Koproduktionen die Ressourcen zweier Hochpreisinstitutionen zu kumulieren, um in einigen wenigen Arbeiten erlesenste Besetzungen in idealen Produktionsbedingungen zusammenzuführen, will Zierhofer-Kin ebenso nichts mehr wissen: „Irgendwelche teuer produzierten toten Fische herzutun, die wahnsinnig schön sind, wo man aber danach nur sagen kann, wo gehen wir essen, das ist nicht meines.“ Im Interview mit der Wiener Tageszeitung Standard legt er dem geneigten Abonnentenpublikum die toten Fische erst einmal vor die Füße und möchte sie dann doch bei nächster Gelegenheit mit „offenen Armen“ empfangen.

Am Sprechtheater störe ihn die Repräsentation, nicht nur im machtpolitischen Sinn, sondern die Idee des „ich spiele etwas“. Es habe viele Entwicklungen verschlafen. Für seine künstlerische Sozialisation, das sagt er in unserem Gespräch, waren Heiner Müller, Robert Wilson, Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief wichtige Bezugsgrößen. In anderen künstlerischen Formen als dem Theater erlebe er es, ganz anders gefordert zu werden „als in der bürgerlichen Idee von Lernen, Analysieren, Verstehen“.

Das aktuelle Programm verspricht dann den postkolonialen Blick auf die Welt, der die Konstruktion des „Exotischen“ im Blick auf den Anderen dekonstruieren soll, die „Akademie des Verlernens“ unterstützt das (männlich-weiß gedachte) bürgerliche Subjekt in der Relativierung seiner hinter dem eigenen blinden Fleck verborgenen „white ignorance“. Das Eintreten in den aufblasbaren Hammam des Festivalzentrums kuriert erlernte Kopf-Bauch-Antagonismen und homophobe Berührungsängste. Am selben Ort im „Performeum“ sammelt ein junges Kuratorenteam neue performative Sichtweisen und Praxisformen aus aller Welt.

In einer habsburgischen Schlossruine am Rande der Stadt startet mit der Clubveranstaltung „Hyperreality“ ein viertägiges Festival im Festival, dessen gendergerechte Programmierung die männlich-heterosexuelle in den einschlägigen Kontexten aufbrechen soll. „In elektronischen Musikszenen, Mode, queerer Subkultur und dem künstlerischen Untergrund in den autoritären Regimen industrieller Schwellenländer bildet sich ein kritisches Potenzial“, sagt er im Gespräch mit der taz, deren Substanz er als eine Art Impfstoff gegen eine selbstgerechte Verfettung der bürgerlichen Kultur erproben möchte.

Trotz Fischmetaphorik und der bisweilen arroganten Affirmation nicht wirklich neuer Popdiskurse wollen die kommenden Festwochen die Sensibilität und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung im bildungsbürgerlichen Publikum gerade nicht missen. So betont Wolfgang Weiß, der kaufmännisch Verantwortliche der Festwochen, in der Programmpressekonferenz, das Festival habe auch in diesem Jahr 45.000 Karten für Aufführungsformate aufgelegt.

Zierhofer-Kins ästhetischer Einwand gegen Theater entpuppt sich bei Nachfragen schnell als soziologisch motivierte Kritik der „feinen Leute“, um die der Theater- und Musiktheaterbetrieb Wiens noch immer mehr Aufhebens macht als anderswo. Das bewirkt eigenwilliges Rezeptionsverhalten in den unterschiedlichen Alterskohorten der urbanen Bildungsschichten. Herauszufinden, welche Praxisformen in bildender Kunst, Clubkultur, Performance, Theorieproduktion etc. welche Gruppenidentitäten befördern, ist nur mit komplexen Differenzvermessungsinstrumentarien voraussagbar. Theater gehört in Wien selten dazu.

Meese predigt vorsorglich

Sein Einwand gegen Theater entpuppt sich als soziologisch motivierte Kritik der „feinen Leute“

Trotz des Aufwands, den das Theater in Wien treibt, hat es, anders als Berlin, mit der Volksbühne keine künstlerische Position hervorgebracht, die den neoliberalen Kahlschlag an und in den Betrieben als Verlust erfahrbar machen würde. Dafür, dass Theater keine Zukunft hat, bietet Zierhofer-Kin recht viel davon: Romeo Castelluccis „Democracy in America“, Peter Brook stellt sich noch einmal dem „Mahabharata“-Stoff und Ivo van Hofe nimmt mit Jude Law in der Hauptrolle in „Obsession“ die Spur zu Luchino Viscontis „Ossessione“ wieder auf. Es sind die seit den 1990er Jahren oder im Falle Brooks noch weit länger erprobten Positionen einer international flottierenden Festivalkultur.

Dazu gesellt sich ein neues KünstlerInnenproletariat als Verfügungsmasse einer transnational agierenden KuratorInnenkunst. Vom Siegerkunstmarkt kommt Jonathan Meese herüber, um sich in seinem Parsifal-Projekt „Mondparsifal Alpha 1–8 (Erzmutterz Der Abwehrz)“ jenseits allen ökonomischen Kalküls zu verausgaben. Auf der Pressekonferenz in Wien hält er schon einmal vorsorglich eine Predigt zur Pastoralmacht der Kunst, die jede evangelische Akademie zum Heulen brächte. Flankiert von Alexander Kluges enzyklopädischem Opernwissen „Parsifal verlernen“, wird er die spätromantische Obsession vom Gesamtkunstwerk noch einmal aufflackern lassen. So viel unverschnittene Theatersubstanz war hier schon lange nicht mehr.

Dass Pop für die Wiener Kulturpolitik bei der dringenden Ausschau nach neuen Gestaden ein Art Leitwährung wurde, hängt nicht zuletzt mit Zierhofer-Kins vorangegangenem Job zusammen. Auf dem Land im tiefschwarzen Niederösterreich hatte er das im Gegensatz zu den Festwochen sehr überschaubare Donaufestival in einer immer wieder überraschenden Mixtur aus Performance und avancierter Populärmusik zu einem Ort des lustvollen Denkens gemacht, den man zwischen Feldern und Weinbergen am wenigsten vermutet hätte. Wie aber funktioniert das in der Metropole, die über eine höchst ausdifferenzierte musikalische Subkultur verfügt? Ist das Modell übertragbar?

Sein Festivalzentrum hat er auch im urbanen Raum ins Outback verlegt: Favoriten, der 10. Gemeindebezirk direkt hinter dem neuen Hauptbahnhof, wäre selbstständig die zweitgrößte Stadt Österreichs, hat aber noch nicht mal mehr ein Kino. In einem Backsteinbau verflossener Industriekultur entsteht das „Performeum“ und erinnert ein wenig an Site-specific theatre in den 1990ern. Für die Wiener Festwochen war das damals keine schlechte Zeit.

Die Brachen hinter dem Areal sind derzeit mit die heißeste Ware auf dem Wiener Immobilienmarkt. Kunst ist geduldet, die Trickle-down-Ökonomie der 1990er lebt noch. Gegenüber liegt ein tristes Einkaufszentrum mit Fastfood-Läden und 1-Euro-Shops. Am Springbrunnen davor ruhen sich ein paar Kopftuchfrauen mit ihren Einkaufswagen aus. Sollte sich die eine oder andere von ihnen über die Straße ins „Performeum“ trauen, wäre die postkoloniale Perspektive tatsächlich geglückt.