Zahl und Ziegenstall

Hamburger Bahnhof Eine Ausstellung mit Werken Hanne Darbovens in Berlin zeigt die Künstlerin hinter dem Konzept

Die Präzision der Zahlen Darbovens kontrastiert mit der Willkür der Natur in Richard Longs Holzstücken Foto: smb

von Lorina Speder

„Ich werde so lange schreiben, wie es Papier gibt“ – besser als Hanne Darboven selbst kann man ihr Werk nicht erklären. Die deutsche Konzeptkünstlerin schrieb jeden Tag akkurat und verwandelte mit ihren Schriften die Zeit in ein sichtbares Element. Ihr Aufenthalt in New York nach dem Studium 1966 brachte sie zu ihrer Berufung: In ihrem Atelier in Spanish Harlem entdeckte sie die Zahl als einzig unübersetzbares Element. Darboven bildete daraufhin eigene Zahlenkonstruktionen in geometrischen Grafiken ab.

Zwei Bleistiftzeichnungen auf Millimeterpapier mit dem Titel „Konstruktion“ (1966–1967) werden im ersten Raum der Ausstellung „Korrespondenzen“ im Berliner Museum für Gegenwartskunst, dem Hamburger Bahnhof, gezeigt. Ein Foto im anliegenden Gang zeigt diese Zeichnungen vor Darbovens Schreibtisch in Harlem. Es wurde von Susanne Liebelt, einer engen Bekannten Dar­bovens, bei einem Besuch aufgenommen. Michael und Susanne Liebelt erwarben zu Lebzeiten Werke von Darboven – nun ermöglichte das Ehepaar die Ausstellung im Museum mit einer großen Schenkung.

Hanne Darbovens Werk wird hier mit Arbeiten ihrer Freunde aus der damaligen Kunstwelt verbunden. Vis-à-vis der zwei großen Werke Darbovens finden die Besucher auf der anderen Seite des Raumes Sol Lewitts Studie für eine Wandbemalung. Seine linearen Schichten, die mit den fortschreitenden Metern immer mehr werden, ähneln Darbovens Arbeiten. Die Gegenüberstellung verdeutlicht die gegenseitige Inspiration.

Im benachbarten Raum wird Darbovens 169-teilige Arbeit „Menschen und Landschaften“ aus dem Jahr 1985 gezeigt. Die eingerahmten Blätter füllen die gesamten Wände des Raums und beinhalten Quersummen, die Darboven jedem Tag eines Jahres zugeordnet hat. Sie erweitert diese mit Ereignissen, Menschen oder Geschichten auf Postkartenbildern. Durch die titellose Schwemmholzinstallation (1976) von Richard Long mit den zufällig verteilten Holzstücken in der Mitte des Raumes kommt eine interessante Konfrontation zustande: Nicht nur Zeit und Raum werden dadurch abgebildet – die Präzision der Zahlen Darbovens wird zudem mit der Willkür der Natur in Longs Holzstücken verbunden.

Solche Dialoge soll der Ausstellungstitel „Korrespondenzen“ beschreiben. Im Museum wird der Fokus auf diese Querverbindungen aber nicht nur durch Kunstwerke verdeutlicht. Ein weiterer Teil der Ausstellung ist Darbovens Schriftverkehr. Durch die ausgestellten Briefe an Freunde und Kollegen bekommt die Person Darboven, die durch ihr formalistisches Werk als rational und kalt wahrgenommen werden könnte, einen neuen Wesenszug: Trotz der vielen Quersummen und Zahlen schafft es die Ausstellung, den Menschen hinter der öffentlichen Person Hanne Darboven darzustellen – allerdings in dem Rahmen, den die Hamburgerin zu Lebzeiten selbst gesteckt hatte.

Guten Morgen Mutter

Es erstaunt, dass Darboven vor ihrem Tod im Jahr 2009 einige Aktenordner mit Briefen sortierte, die für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. So erfahren die Besucher über ihre Liebschaft mit Minimal-Künstler Carl André. Die Liebesbriefe der beiden zeigen Blätter, die immer wieder bemalt und verschickt wurden. Wenn es durch die Entfernung nicht möglich war, sich zu treffen, dann griffen die gezeichneten Hände auf dem Papier ineinander. Auch Darbovens Beziehung zu ihrer Mutter wird in ausgewählten Briefen beleuchtet – im selben Haus wohnend, schrieb die Tochter zum Beispiel ein „Guten Morgen Mutter“, um den Tag mit ihr zu begrüßen.

Während man als Besucher die Briefe betrachtet, kommt man nicht um die Frage herum, warum Darboven genau diese Schriften für eine Selbstdarstellung auswählte. Der wohl wichtigste Schlüssel, um die Person Hanne Darboven zu ergründen, wird deshalb der Film in der Ausstellung sein. Er zeigt, wie Darboven gelebt hat und was ihr wichtig war. Im digitalisierten Video „Hanne Darboven am Burgberg“ (2000–2002) zeigt die Künstlerin einigen Besuchern das Elternhaus, in welchem sie sich nach dem Tod des Vaters eingerichtet hatte. Im Widerspruch zur Ordnung und Regelmäßigkeit ihres Werks ist ihr Zuhause fast skurril eingerichtet: Es ist vollgestellt mit Sammelgegenständen und Antiquitäten. Beinahe stolpert der Kameramann über die Giraffenskulptur oder die Töpfe und kommt kaum an den Wandverkleidungen, dem Motorroller oder dem Sofa vor der Spüle vorbei.

Das Systematische ist hier bestimmt auch vorhanden, doch ist es ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Darboven erklärt vor der Kamera ihr Vorgehen in ihrer Arbeit in bestechender Genauigkeit und leitet die Besucher zum Schluss in den Stall der Ziegen.

Die Herzlichkeit ihrer Briefe überträgt sich unmittelbar vor der Kamera. Es ist ein Moment, der mehr über sie aussagt als ihre Korrespondenzen. Ein Bild bleibt im Gedächtnis: Als Darboven im strengen Anzug, Turnschuhen und mit den charakteristisch kurz geschorenen Haaren ein junges Ziegenkitz in den Armen hält, da merkt man als Betrachter, ist sie glücklich.

Bis 27. 8. im Hamburger Bahnhof, Berlin