Gebaute Lügen

Die Staatsoper Unter den Linden feiert den Tag der Deutschen Einheit. Es gab Reden, aber keine Oper. Mit Faust als Notprogramm

Künstler der Staatsoper vor dem höher gelegten Dach Foto: Barbara Braun/drama

Von Niklaus Hablützel

Es klingt sehr gut, das zuerst. Auf dem Sitzplatz Nummer 26, erste Reihe links weit oben im dritten Rang jedenfalls sind schon die ersten Takte der Staatskapelle eine kleine Sensation. Alles, aber auch wirklich alles ist klar, unterscheidbar und dennoch warm und voll klingend zu hören, auch die Singstimmen strahlen, unter anderen von Roman Trekel, René Pape, Elsa Dreisig und Katharina Kammerloher. Was sie singen ist so verständlich, dass die Textprojektion über dem Bühnenportal fast schon überflüssig wirkt.

Das ist aber auch schon alles, was es über dieses Ereignis des 3. Oktober 2017 in Berlins Mitte zu sagen gibt. Angeblich ist die Staatsoper Unter den Linden an diesem Tag eröffnet worden, nachdem das Gebäude sieben Jahre lang renoviert worden ist. Es ist aber nicht wahr. Die Staatsoper ist nicht wieder eröffnet worden. Opern werden Unter den Linden nicht gespielt. Die zur Zeit modernste Bühnentechnik muss erst noch erprobt werden. Die erste Premiere soll am 7. Dezember stattfinden, mit „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck, das Weihnachtsmärchen also, das jedes Stadttheater um diese Zeit gerne ins Programm nimmt. Wegweisendes ist also vorerst nicht zu sehen, auch wenn Achim Freyer inszenieren wird.

Vielleicht schafft er es sogar mit seiner subversiven Fantasie, in diesem monströsen Tempel historischer Lügen und reaktionären Geschmacks Theater zu spielen. Er wird es schwer haben. Jürgen Flimm und Daniel Barenboim haben es gar nicht erst versucht. Eigentlich hatten sie Wolfgang Rihm gebeten, für diesen Feiertag ein neue Oper zu schreiben. Aber Rihm ist offenbar schwer erkrankt und konnte den Auftrag nicht erfüllen. So ist ihm immerhin der Besuch der Eröffnungspremiere erspart geblieben.

In der Not haben Flimm und Barenboim versucht, die kaum je gespielten „Szenen aus Goethes Faust“ von Robert Schumann auf die Bühne zu bringen. Das geht nur, wenn man das vollkommen undramatische Werk für Singstimmen und Symphonieorchester auf abendfüllende Länge aufbläht. Flimm hat dafür acht Textstellen aus beiden Teilen von Goethes „Faust“ ausgewählt, den Mephisto mit Sven-Eric Bechtolf, den Faust mit André Jung und das Gretchen mit Meike Droste besetzt. Ursula Kudrna hat sie in allerlei hübsche Kostüme gesteckt. Fröhlich und lustig wie auf dem Kindergeburtstag toben sie darin herum.

Selbst Barenboim kann die Musik nicht retten

Nett, aber belanglos ist das. Natürlich wollte Flimm nicht allen Ernstes einen neuen Faust inszenieren. Seine vertändelten Fragmente zerstören nun aber den musikalischen Zusammenhang von Schumanns Musik. Sie leidet sehr darunter. Selbst Barenboim kann sie nicht retten. Zu hören (sehr gut zu hören, um es noch mal zu sagen) sind nur Fragmente und bemerkenswert schöne Stellen, die daran erinnern, welch begnadeter Meister des Liedes Schumann war. Seine Begeisterung für Goethes Faust hat den Romantiker in ihm aber leider zu einer merkwürdig schwülstigen Frömmigkeit verleitet, die nun, in Flimms Einzelteile zerhackt, besonders unangenehm aufstoßen.

Das ist Geistesgeschichte, an die im Theater zu erinnern ist, wenn eine neue Aufführung in unserer Zeit gelingen soll. Genau das aber wird am schwierigsten sein in diesem Haus, das eine einzige Fälschung der Geschichte ist. Mag sein, dass der Name „Staatsoper“ dazu reizt, den Tag der Deutschen Einheit zu feiern, der ja tatsächlich ein Grund zum Feiern ist. Die letzten Premieren zur Saisoneröffnung fanden deshalb immer am 3. Oktober statt und nahmen mitunter auch Bezug auf dieses Datum der deutschen Geschichte. Jetzt aber geriet die ohnehin nur vorgetäuschte Eröffnung des Opernhauses vollends zum Staatsakt der peinlichen Art.

Nett und lustig wie auf dem Kindergeburtstag toben die Schauspieler herum

Bewaffnete Polizei und Personenschleusen sorgten für maximale Unfreiheit, dann kamen Reden an die geladenen Gäste. Sie stehen für die Worte „Kultur“, „Politik“, „Wirtschaft“ und „Sport“. Mit Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sprach der Staat zu ihnen, mit Michael Müller die Stadt, mit Monika Grüters die (soeben abgewählte) Regierung. Sie sprachen nicht schlecht über den Wert der Kultur für das große Ganze der Freiheit und des Friedens. Niemand jedoch sprach über die jüngste Geschichte dieses Hauses.

Sie darf nicht vergessen werden, denn sie ist eine Geschichte der politischen, keineswegs architektonischen Restauration. Historisch weitaus gerechter wäre es gewesen, den Palast der Republik stehen zu lassen und die Staatsoper abzureißen, wenn sie denn schon unrettbar baufällig war. Beide sind Denkmäler der DDR. Der Palast stand für die Moderne des Sozialismus, die Staatsoper jedoch für das Repräsentationsbedürfnis der neuen herrschenden Klasse. Hier wollten die Parteiführer sich noch einmal im Glanz des preußischen Barock sonnen, den sie im nur leicht beschädigte Stadtschloss der Hohenzollern gerade revolutionär in die Lust gesprengt hatten. Hier, in der komplett zerbombten königlichen Oper von Friedrich dem Großen wollten sie ihre Ruhe haben. Sie stellten die Hülle des Hofarchitekten Knobelsdorff wieder her und füllten sie mit einem Saal ihres höchst persönlichen schlechten Geschmacks. Viel Gold und Stuck musste es sein.

Den Architekturwettbewerb für die Sanierung gewann eine in der Tat enorm überzeugende Lösung des historischen Konflikts: in das im originalen Maßstab und Stil wiederhergestellte Gebäude sollte ein völlig neues, elegant und großzügig gestaltetes Ensemble aus Bühne und Saal hineingesetzt werden. Ein Aufschrei der Ewiggestrigen beider Systeme war die Folge, der Senat gab nach, und die unheiligste Koalition der linken und rechten Ränder der Kulturpolitik sorgte dafür, dass ihre politische Restauration auch tatsächlich gebaut wurde.

So sieht sie nun aus, die neue Staatsoper: Muffiger Stuck im Geschmack des ZK der SED, dazu ein monströses Gitter unter dem um vier Meter höher gelegten Dach. Es zerstört jede Proportion des Saales und sieht aus wie das Riesenauge eines Aliens. Es verhüllt den zusätzlichen Hallraum. Sehen darf man ihn nicht. Er klingt sehr gut, das ist wahr. Alles andere ist nicht wahr.