Parlament in Kabul darf doch loslegen

AFGHANISTAN Das im September gewählte Parlament wird jetzt endlich eröffnet. Doch in dem Streit über die Konsequenzen aus den massiven Wahlfälschungen sind alle beteiligten Institutionen beschädigt worden

BERLIN taz | Nach einem mit einem politischen Kompromiss beendeten Machtkampf soll am Mittwoch in Kabul das afghanische Parlament eröffnet werden – fünf Tage nach Ablauf der verfassungsmäßigen Frist. Damit machte Präsident Hamid Karsai einen kleinen Rückzieher. Denn er wollte diesen protokollarischen Termin wegen Auslandsreisen zunächst bis Mitte Februar verschieben und den 249 Unterhausabgeordneten – darunter 140 Neulinge – gleich zeigen, wer in Kabul das Sagen hat. Jetzt lässt er die über 200 Abgeordneten, die in einem Hotel drei Tage lang eine Art Parallelparlament betrieben, erst mal ihre Sitze einnehmen. Diese sind auch eine wichtige Einkommensquelle – viele Bewerber verschuldeten sich für ihre Wahlkampagnen.

Zugleich schwebt über ihnen das Damoklesschwert weiterer Untersuchungen der Wahlfälschungen vom 18. September. Karsai habe zwar zugesagt, dass dies nicht mehr dem von ihm berufenen und von den Abgeordneten als verfassungswidrig bezeichneten Sondergericht obliege, sondern dem Obersten Gericht. Aber die Parlamentarier haben dies so wenig schriftlich wie die verlangte Auflösung des Sondergerichts. Offenbar hoffen alle, dass es ihn oder sie gerade nicht erwischt.

Auch Karsai geht nicht als klarer Sieger aus dieser Affäre hervor. Er wurde von US- und UN-Vertretern kritisiert und musste mit ansehen, wie sich eine große Parlamentsmehrheit gegen ihn stellte. Aber das dürfte vorerst vorbei sein: Unter den Karsai-Gegnern der letzten Tage sind mindestens drei Anwärter für den Posten des Parlamentssprechers, der jetzt gewählt werden muss. Verlierer sind jene Kandidaten, die auf Karsai und sein Sondergericht gehofft hatten und jetzt ohne Sitz bleiben. Sie wollen am Mittwoch demonstrieren. Aber auch unter ihnen sind viele Stimmenkäufer.

Beschädigt ist auch Afghanistans Verfassung. Sehen zwar fünf Tage Verzögerung wie eine Kleinigkeit aus, setzen sie doch eine lange Kette fort. Keine der Wahlen seit 2001 fand zum verfassungsmäßigen Zeitpunkt statt. 2009 und 2010 mussten jeweils mehr als eine Million Stimmen – fast ein Viertel – annulliert werden. Doch blieben noch viele Fälschungen ungeahndet. Vor allem: Die erste jetzt rein afghanisch organisierte Wahl versank im Chaos. Die Wahlbehörden waren intransparent, korrupt und verloren den Überblick. Der Massenbetrug wird wohl nie völlig aufgeklärt werden, denn es müssen nicht einmal alle Unterlagen aufbewahrt werden.

Der Wahlprozess ist ein warnendes Beispiel dafür, wohin es führen kann, wenn die von den Nato-Ländern auf ihrem Lissabon-Gipfel 2010 beschlossene „Übergabe der Verantwortung“ an afghanische Institutionen zu früh erfolgt. THOMAS RUTTIG