Es gibt kein Recht auf politische Illusion

MÜNDIGKEIT Er geht wählen, er fordert politische Bildung, er fürchtet totalitäre Zeiten. Der Philosoph Markus Gabriel sagt: „Wir bräuchten mehr politische Kultur.“ Ein Gespräch über Sprachlosigkeit und die Kalifornisierung Deutschlands

■ Markus Gabriel, 33, studierte in Hagen, Köln und Heidelberg. 2005 arbeite er als Gastforscher in Lissabon. 2008 war er Assistenzprofessor am Department of Philosophy der New School for Social Research in New York City. Als Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn lehrt er seit 2009.

■ Bestseller: Mit seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ (Ullstein Verlag, Berlin 2013) hat er ein eigenes, inzwischen überall debattiertes philosophisches Werk geschaffen und gleichzeitig die Sachbuch-Charts erreicht.

■ Philosophie: Sein „Neuer Realismus“ versucht, die verlorene Deutungshoheit der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften beim Erkennen von Wirklichkeit zurückzugewinnen.

■ Kooperation: Mit Slavoj Zizek veröffentlichte er 2009 ein Buch über Mythologien.

INTERVIEW JAN FEDDERSEN
UND PETER UNFRIED

taz: Herr Professor Gabriel, Ihre Kollegen Harald Welzer und Peter Sloterdijk wollen am 22. September nicht wählen. Sie auch nicht?

Markus Gabriel: Nein, auf keinen Fall. Ich werde wählen. Ich sehe gar keinen Grund für solchen übertriebenen Pessimismus, der nur die trotzige Kehrseite des übertriebenen Optimismus ist, den viele mit Angela Merkel verbinden. Wer nicht wählt, macht sich politisch unmündig und lädt andere dazu ein.

Wen wählen Sie denn?

Ich habe kein Wahlmuster, ich bin Swing Voter und schaue, was sich noch einstellt. Im Moment wäre ich vielleicht ein trotziger SPD-Wähler. Damit die wenigstens noch eine Stimme kriegen, damit es bunt bleibt.

Ist das argumentativ nicht etwas dünn?

Tja, bisher gibt es in diesem Wahlkampf kaum Argumente. Da muss man abwarten, das geht jetzt erst los.

Warum gehen viele davon aus, dass die CDU-Kanzlerin Angela Merkel die Wahl sowieso gewinnt?

Sie denken, es gehe uns ja gut, und das mag stimmen, aber die Frage für mich ist: Woher kommt dieses Denken? Angela Merkel kann diese große ideologische Blase nicht erzeugen, das wäre eine Allmachtsfantasie. Dafür ist unsere Gesellschaft zu komplex. Also müssen es die Bürger sein, die das generieren und zurückgestrahlt haben wollen, um sich zu bestätigen, dass es in Ordnung ist, wenn Merkel gewinnt. Man möchte die Verantwortung gerne abgeben.

Parteien lassen entscheidende Fragen im Wahlkampf weg, weil sie keine Antworten haben. Bürger wollen manches lieber gar nicht wissen. Wie kommt man gegen diese Sprachlosigkeit an?

Das ist eine kulturell generierte Sprachlosigkeit. Wir bräuchten mehr politische Kultur. Die kriegt man durch politische Bildung.

Sie reden schon wie Oskar Negt.

Es bräuchte jedenfalls mehr davon. Meine Hoffnung wäre, dass wir uns mit der Wahrheit konfrontieren. Wir müssen uns fragen, was die politische Wahrheit ist. Das muss man auch im Wahlkampf diskutieren. Wann sonst?

Was ist die politische Wahrheit?

Deutschland muss aufgrund der ökonomischen Lage mehr Verantwortung übernehmen im globalen, mindestens gesamteuropäischen Zusammenhang.

Um Gottes Willen.

Falsch. Das ist nicht militärisch, sondern es gibt einen begründeten ökonomischen und einen moralischen Zusammenhang. Es geht hier um europäische Solidarität. Da muss man auch Habermas kritisieren, der im Spiegel-Essay suggerierte, es sei 1871. Er irrt. Das Kaiserreich ist vorbei. Diese uralte Geopolitik-Diskussion müssen wir komplett weglassen. Deutschland will nicht USA sein, aber es kann auch nicht Norwegen spielen.

Mit europäischer Solidarität ist aber kein Wahlkampf zu gewinnen.

Das stimmt. Gewinnen lässt er sich damit nicht. Aber es gibt zwei Perspektiven. Die völlig berechtige Perspektive einer Partei, die den Wahlkampf gewinnen will. Und die Perspektive der Bürger, die häufig erst einmal kleine Selbstbeschreibungen haben: Unerträglich, dass ich arbeitslos bin. Meine Tochter soll auf eine gute Schule gehen. Es wäre gut, wenn die Perspektiven von Parteien und Bürgern näher aneinanderrücken würden.

Marx wollte den ideologischen Schleier lüften.

Eine kritische Theorie, die an der Ideologie rumschraubt, um das Maß der Illusion zu reduzieren, kann das nur bis zu einem gewissen Grad leisten, weil Menschen ein gewisses Recht auf Illusion haben.

Also doch?

Ja, die Frage ist aber: In welchem Umfang und wo werden die Illusionen gefährlich?

Konkret?

Ich habe ein Recht darauf, nicht wissen zu müssen, wie viel Menschen gerade auf einer Palliativstation an Krebs sterben. Das ist Arbeitsteilung. Man könnte mir das auch täglich mitteilen. Aber das könnte man nicht aushalten. Oder wenn alle wissen müssten, was im Universitätssystem so alles läuft oder im Journalismus.

Das könnte man auch nicht aushalten.

Richtig. Deshalb haben wir ein Zuständigkeitssystem. Die einen müssen dies aushalten und die anderen das.

Gibt es auch ein Recht auf illusionären Wahlkampf?

Nein. Es gibt kein Recht auf politische Illusion. Genau da endet das Recht, denn hier kommt die Moral ins Spiel. Wenn wir aber die Arbeitsteilung mit der Politik so weit treiben, dass wir nur das Kreuzchen bei dem Politiker setzen, der uns am meisten in Ruhe lässt, und uns selbstverschuldet maximal unmündig machen, übersehen wir die Konsequenzen, die das hat, nicht nur für die anderen Europäer. Wir haben eine moralische Pflicht, uns zu informieren.

In Ihrem Buch sagen Sie, Vorurteile seien nichts als „erstarrte Sinnfelder“. Der Wahlkampf, die Parteien, unser Denken, lauter erstarrte Sinnfelder?

Die groben Linien sind hart wie Mauern, das merke ich jetzt in diesem Wahlkampf auch. Die Erstarrung ist ein Nicht-hinsehen-Wollen. Man will sich die Komplexität nicht bewusst machen. Aber dahinter ist ja weiter die Realität. Ideologie ist die Verstellung dieses Umstandes. Es gibt weiter Geschichte, Zeit und Tod. Die wird man nicht los.

In dem Buch erklären Sie auch, warum es die Welt nicht gibt, sondern nur Perspektiven auf die Wirklichkeit. Sinn entsteht erst, wenn wir ihn suchen. Demnach gibt es auch die SPD nicht?

Die „Welt“ ist ja auch eine Art zu denken. Man sucht immer nach Mustern. Die „Gesellschaft“ gibt es auch nicht. Wenn man auf einer mittleren Ebene bei der SPD arbeiten würde, würde man merken, dass auch die „SPD“ wie alles andere in Unsicherheiten schwebt. Die SPD besteht aus Menschen, die Magenschmerzen haben und anderen, die schlecht geschlafen haben. Da gibt es kein Übersubjekt. Es gibt also in dem Sinne nicht die SPD, sondern alle agieren nur, als gäbe es sie. Die einen tun es wider besseres Wissen, um Wahlerfolge zu erzielen, andere machen es sich selber vor.

Die Frage ist doch: Wenn ich meine Ideologie aufgebe und bin kein „Deutscher“, „Konservativer“ oder „Linker“ mehr, was bin ich dann? Frei oder leer?

Wenn ich keine Illusionen hätte, wäre ich leer, dann würde ich nur noch schweben. Heidegger wollte das, er hat es das Sein zum Tode genannt. So kann ich nicht leben. Das ist zu frei. Es muss einen Anker haben: Das erwähnte Recht auf Illusion über Arbeitsteilung. Wie die Arbeitsteilung gelingend organisiert wird, das ist dann die politische Diskussion. Etwa zur Überwindung der komplexeren rassistischen Tendenzen, die als Stereotypen in unser Denken eingehen.

Was meinen Sie?

Wenn ich das schon höre: ein türkischstämmiger Deutscher! Das ist ein Deutscher. Punkt. Weshalb schaue ich mir den unter besonderer Betrachtung seiner Migrationshintergründe oder seiner Haut an? Das ist Ideologie. Um Deutsch zu sein, muss man nicht Eisbein mögen oder auf eine bestimmte Art aussehen. Das sind Illusionen, auf die wir kein Recht haben.

Sie waren in diesem Jahr fünf Monate in Kalifornien. Was bringen Sie mit?

Wir erleben ja in Deutschland gerade eine Umschichtung hin zu einem kalifornischen Gesundheitsideal: Du darfst nicht rauchen, du darfst keinen Alkohol trinken. Das Neueste, was nun aus Kalifornien droht: Du darfst nicht essen.

Nicht essen?

Die Silicon-Valley-Manager haben die Idee, dass auch Essen krebserzeugend sein kann und wollen es durch den perfekten Shake ersetzen, den man dreimal am Tag trinkt. Damit ist in Sekunden inklusive Krebsvorsorge alles erledigt. Und damit ist dann auch noch die Restaurantkultur weg. Eine politische oder Lebenswelt-Kultur nach der anderen verschwindet.

Haben Sie Angst vor Kalifornien?

■ Es gibt, so Markus Gabriel, die eine Welt nicht. Erklärungsmuster für das irdische Alles können nicht gültig sein, weil sie der Vielfalt der von uns wahrgenommenen oder geschaffenen Realitäten nicht gerecht werden. Vielmehr gibt es viele Sinnfelder, die nicht nur aus materiellen (Tische etwa), sondern auch aus gleich zu betrachtenden geistigen Realitäten (zum Beispiel Hexen in der Literatur) bestehen.

■ Das „Universum“, so gesehen, allein zum Maßstab zu machen sei sinnlos. Im Grunde gehe es darum, sich von der Illusion zu befreien, es gebe einen großen Sinnzusammenhang namens „Welt“.

■ Das bedeute nicht, das in der Welt Empfundene oder Gesehene für erklärungslos zu halten. Vielmehr müsse man den Sinn für sein Leben selbst entwickeln. Das – und nur das – sei der Sinn des Lebens. Schicksal, insofern, ist, was man aus seinem Leben macht. (pu, jaf)

Das nicht, aber ich dachte immer, die Schaltzentrale der Welt sei New York mit der Wallstreet. Aber die ideologische Schaltzentrale ist Kalifornien – und zwar Nord und Süd.

Wo ist die Schaltzentrale von Deutschland?

Eben auch in Kalifornien.

Gehen wir wirklich totalitären Zeiten einer großen Ökoerzählung entgegen?

Ja, das glaube ich. Foucault fiel es schon Anfang der 80er in Berkeley auf, dass und wie in Kalifornien geschaltet wird. Er führte den Begriff der Biopolitik ein. Die Regulierung des individuellen Körpers als Machtmechanismus. In Deutschland wird das umgedreht; Biopolitik und Bioethik werden als etwas Gutes gesehen. Das hat etwas Diktatorisches, weil dahinter die Botschaft steht: Wenn du nur immer schön Broccoli isst, gib es auch keinen Krebs mehr.

George Bush hasste Broccoli.

Immerhin.

Sie haben grade einen Bestseller gelandet: Wo ordnen Sie sich ein zwischen Theodor W. Adorno und Richard David Precht?

Adorno glaubte, dass er so schreiben muss, um Denkzwänge aufzubrechen. In dieser intellektuellen Kultur war das richtig. Diese gigantische Sprachkultur gibt es aber nicht mehr, in der man mit Adorno’schen Aphorismen tiefe Spitzen säen kann. Wir haben heute eine alltäglichere Egalität, und das finde ich gut. Die muss man bedienen mit klaren und gut begründeten Sätzen. Adorno müsste sich heute maximal klar ausdrücken. Das heißt für mich: Die Gedanken müssen so komplex sein wie bei Adorno, aber die Sätze stilistisch klar und verständlich.

Das sagt der Hochelitäre: Die Komplexität meiner Gedanken ist nicht in einfachen Sätzen auszudrücken.

Und genau das glaube ich nicht. Die wahre Komplexität eines philosophischen Gedankens besteht darin, dass zehntausend andere Gedanken möglich sind. Um einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten, muss ich wenigstens hundert ausschließen und damit den Umkreis meines Gedankens verteidigen. Das kann ich nicht für alle darstellen. Dafür bin ich Professor, der die Zeit gestiftet kriegt durch Steuermittel. Aber meine Aufgabe ist es auch, als Ergebnis den Kern des Gedankens für alle nachvollziehbar darzustellen. Ich bin also Adorno in der Wissenschaft, so komplex wie möglich, und Precht in der Öffentlichkeit, indem ich meine Sache so klar wie möglich darstelle.

Die Spiegel- Bestsellerliste ist nicht der Feind des philosophischen Gedankens?

Nein, das ist falsch. Da steckt oft Neid dahinter. Oder Verunsicherung.

Worum geht es wirklich?

Mir geht es um eine moralische Verbesserung der Menschen, angesichts des Umstandes, dass wir alle zusammen leiden. Und dadurch um eine Reduktion des Leidens. Und Politik sollte dazu auch weiterhin ihren Beitrag leisten.