Die Empörungslüge

HAUPTBAHNHOF Trotz des Streiks bleibt es im Berliner Hauptbahnhof ruhig. Auf der Suche nach den wütenden Fahrgästen

Gleis 2, Berlin Hauptbahnhof, Johannes Waltsgott wartet auf seinen ICE nach Hamburg. Der längste Streik in der Geschichte, und dieser Reisende sagt: „Ich finde das in Ordnung. Immerhin funktioniert der Ersatzfahrplan.“ Da sein Zug ausgefallen war, muss er jetzt die nächste Verbindung nehmen. Er erreicht sein Ziel trotz des Streiks.

Reisende, die Bahnmitarbeiter beschimpfen, wütende Kunden? Hier in der Bahnhofshalle bleibt es erstaunlich ruhig. Nur die Motoren der stehenden Züge dröhnen monoton. Die Läden haben geöffnet, doch kaum jemand kauft ein. Die Bahnsteige sind verwaist, nur ab und zu suchen Reisende ihren Zug. Anstatt sich zu beschweren, arrangieren sich die Menschen mit den Ausfällen. Viele nutzen an diesem Wochenende Fernbusse, Flieger oder Mitfahrgelegenheiten. Vom „Bahnsinn“, wie Bild schrieb, ist nicht viel zu sehen.

„Es ist schon gespenstisch hier, wenn man so wenige Leute trifft“, sagt Katrin Hwe. Die 70 Jahre alte Dame sitzt mit ihrem Sohn Jörg, 49, auf einer Bank und wartet auf den Ersatzzug nach Anklam. Über den Lokführerstreik regen sich die beiden nicht auf: „Als Reisender wird man schon in Geiselhaft genommen“, sagt Jörg Hwe. „Aber es gibt nun einmal das Recht auf Streik. Das ist grundsätzlich schon in Ordnung.“

Eine der Helferinnen, die Reisende beraten soll, ist Birgit Chollee. Die Bahnmitarbeiterin steht am Eingang hinter einem Tresen, hat eine leuchtend rote Weste an und trägt eine Umhängetasche. Sie lächelt und sagt doch tatsächlich: „Der Streik ist hier kein Thema.“ So viele gestresste Kunden gibt es an diesem Wochenende gar nicht, sagt sie und weist Touristen den Weg in die Stadt.

Gelassen begegnet auch die 47-jährige Anna Niemeyer dem Streik. Mit einem Kaffee in der Hand wartet sie auf dem Bahnsteig. In Berlin hat sie einen Kongress besucht, nun will sie zurück nach Hamburg. „Eigentlich ist der Streik gar nicht so schlimm.“

Ein Drittel aller Züge fährt an diesem Wochenende. Doch davon wissen viele Kunden offenbar nichts.

Ist die daran die Bahn schuld? Bleiben deswegen viele Züge einfach leer?

Anna Niemeyer fuhr mit einem Ersatzzug von Hamburg nach Berlin. „Man muss bei dem Streik natürlich umplanen. Aber dafür sind die Abteile leer“, freut sie sich. Sie versteht die aufgeregte Medienhetze nicht. „Ich bin aber froh, dass das Ende des Streiks auf Samstagabend vorverlegt wurde“, gibt sie zu: „Der Aufschrei der Republik ist ausgeblieben.“

Der Grund dafür ist ihr klar, der Streik habe die deutsche Bevölkerung nicht so empört wie die Medien.

MARKUS KOWALSKI