Wochenlang auf Regenpausen gewartet

FILMGESCHICHTE Eine Pforte in das Reich des großen französischen Regisseurs Jean Renoir öffnet Helmut Färbers Buch „Partie/Renoir“

VON MICHAEL FREERIX

„Wenn es so etwas wie die Seele des Kinos gäbe“, schreibt der Filmkritiker Helmut Färber, „dann wäre das nicht die Filmkunst, sondern die Kinematografie.“ Diese sei „wichtig in einer Gesellschaft, in der sich alles Wahrnehmbare in Zeichen oder Signale verwandele“ und somit entwerte. Färbers Texte und Bücher stemmen sich gegen die Entwertung. Der Film habe „seine Bestimmung verfehlt, ganz zu der Kunst des 20. Jahrhunderts zu werden, wie er es hätte werden sollen“, urteilt Färber, weil er sich den bürgerlich-ästhetischen Bedürfnissen des 19. Jahrhunderts unterworfen hat. Er schreibt dagegen an und möchte mit seinen Büchern über Regisseure wie Yasuhiro Ozu, Kenji Mizoguchi oder David Wark Griffith die unterschlagenen Möglichkeiten des Films zurück in die Kultur der Gegenwart bringen.

Die neue Veröffentlichung des ehemaligen Redakteurs der Zeitschrift Filmkritik, „Partie/Renoir“, stellt den vorläufigen Endpunkt seiner intensiven Beschäftigung mit Jean Renoir vor, die für Färber gegen Ende der sechziger Jahre begann, als er Dozent an den Filmhochschulen in München und Berlin war und nebenher Filmsendungen für den WDR produzierte.

Jean Renoir machte in den 85 Jahren seines Lebens eine eigenwillige Karriere. An 38 Filmen wirkte er mit. In den zwanziger Jahren verkaufte er einige Bilder seines Vaters, des Malers Auguste Renoir, um mit den Erlösen seine ersten Filme zu produzieren. Die Zeit zwischen 1930 und 1940 gilt als seine künstlerisch erfolgreichste Schaffensphase. In diesen Jahren entstehen 15 Filme, unter ihnen Klassiker wie „Die große Illusion“ und „Die Spielregel“. Doch nicht diese Meisterwerke liegen Färber besonders am Herzen, sondern ein wenig beachteter Film aus dem Jahr 1936, „Une partie de campagne“ („Eine Landpartie“) dient ihm als Blaupause, um die Kunstauffassung Renoirs offenzulegen. Dabei sticht dieser Film durch seine Entstehungsgeschichte aus dem Oeuvre Renoirs hervor, denn es dauerte zehn Jahre, bis er fertiggestellt werden konnte.

Dreh im Freien

Im Sommer 1936 wollte Renoir an den Ufern des kleinen Flusses Loing eine Novelle von Guy de Maupassant verfilmen. Um den lebendigen Reiz dieses Stoffes einzufangen, sollten die Dreharbeiten im Freien, bei natürlichem Tageslicht, stattfinden, eine damals außergewöhnliche Arbeitsweise. Doch nach wenigen Tagen begann es beinahe ununterbrochen zu regnen. Zäh wartete das Team wochenlang auf kurze Regenpausen, in denen hastig gedreht wurde. Doch es entstand nur Stückwerk. Entmutigt brach Renoir die Dreharbeiten ab. Mehrere Versuche, „Une partie de campagne“ fertigzustellen, scheiterten. Dann kam der Weltkrieg.

Nach Kriegsende liegt die französische Filmindustrie brach. Der Produzent Pierre Braunberger erinnert sich an das Material in seinem Keller. Er kann eine versierte Cutterin überzeugen, aus dem Stückwerk einen Film von 50 Minuten Länge zu montieren. So kommt „Une partie de campagne“ zehn Jahre nach Ende der Dreharbeiten im Dezember 1946 in die Kinos und wird zu einem der größten Nachkriegserfolge Renoirs.

Da sich Helmut Färber nie in akademischen Hierarchien bewegt hat, fehlt „Partie/Renoir“ jeglicher akademische Duktus. Mit großer Akribie dringt er in den Gegenstand seiner Betrachtung ein: Das Buch beginnt mit einer detaillierten Filmbeschreibung und einer Nachschrift des Dialogs, geht dann über in einen Bildteil, der Szenen aus dem Film mit dem gegenwärtigen Zustand des Drehortes vergleicht, und mündet schließlich in einen Essay, der „Une partie de campagne“ als Eingangspforte in das Reich des Jean Renoir nutzt. Erzählhaltung, Schauspielführung, Lichtgestaltung, Bildgestaltung sind die Themen, um die es in der Betrachtung von Färber geht. Durch diese Elemente der Filmgestaltung wird die visuelle Aura nachvollziehbar, auf der das Kino im Wesentlichen beruht – und nicht aus einer Kombination von Struktur und Plot-Points, wie es die Filmanalytiker der Gegenwart gerne glauben machen wollen. Diese Aura ist „nicht nur eine Frage der Erinnerung, sondern schon eine des Wahrnehmens“, stellt Färber fest. Er will keine Lücken und Fehler, die beim Ansehen von Bildern auftauchen, entstehen lassen, um Fälschungen, Wunschbilder und eigene Projektionen zu vermeiden. Färber will zeigen, was geschieht, wenn das Leben in den Film eindringt und eine lebendige und lebensnahe Kunst voller Faszinationskraft hervorbringt.

■ Helmut Färber: „Partie/Renoir oder/ou J’aime mieux la méthode qui consiste à concevoir chaque scène comme un petit film à part“, im Verlag des Autors 2011, 295 Seiten, 42 Euro (zu beziehen über Helmut Färber, Fendstr. 4, 80802 München)