Gejagte einer entfesselten Kamera

RETROSPEKTIVE Der künstlerische Eigensinn des Autorenfilms und die Softcore-Reize des Bahnhofskinos vertragen sich prima: 38 Filme des spanischen B-Movie-Regisseurs Jess Franco sind ab heute im Babylon-Mitte zu sehen

Francos Filme sind meditative Traumgebilde mit fast schon taktilen Qualitäten

VON THOMAS GROH

Babylon, eine passendere Bezeichnung für die Spielstätte einer Jess Franco gewidmeten Werkschau lässt sich kaum vorstellen. Kaum ein anderer Name aus der Kulturgeschichte beschreibt besser, um was sich das Werk des spanischen B-Movie-Regisseurs mit den 1.000 Pseudonymen im Kern dreht: Um entfesselte körperliche Begierden und abweichendes Verhalten aller Art. Kurz: Um Sex and Crime. „Necronomicon – Geträumte Sünden“, „Sie tötete in Ekstase“ , „Blue Rita – Das Frauenhaus“, „Dracula contra Frankenstein“ oder „Eugenie – The Story of her Journey into Perversion“ – bereits in den wilden, der Bahnhofskino-Ära entsprungenen Filmtiteln schlummert das Versprechen auf eine unpuritanische Trivialfilm-Schattenwelt voller verbotener Früchte und zelebrierter Maßlosigkeit.

Und maßlos ist Francos Werk in jeder Hinsicht: Seit den späten 50ern wächst eine bislang rund 200 Einträge umfassende Filmografie, die durch die randständigeren Produktionssegmente des Genrekinos genauso reist wie durch die zentralen Filmproduktionsländer Europas. Wo man seine Filme finanzierte, ließ sich Franco im Laufe seiner wechselvollen Karriere nieder. Er drehte Fu-Manchu-Filme in Großbritannien, preisgünstige Spätausläufer der Wallace-Welle für die Berliner Filmlegende Artur Brauner, drastisch-spekulatives Material für die Bahnhofskinobelieferung des Schweizer Kommerzfilmproduzenten Erwin C. Dietrich, daneben zahllose Filme von wechselndem Obskuritätsgrad für das französische, italienische, später tatsächlich auch für das spanische Kino.

Mit stolzen 38 Filmen zeigt das Kino Babylon ab heute und bis zum 15. August gerade mal ein Viertel des verwucherten, jeden Film-Philologen zur Raserei treibenden Werks dieses wahrhaftigen Poète maudit. Berlin rückt damit – wenn auch nur in Form einer lediglich mit DVDs und Blu-Rays bestrittenen Reihe – immerhin ein wenig zur Cinémathèque française auf. 2008 hatte diese Jess Franco mit einer erstaunlich umfangreichen Retrospektive endgültig in den Rang eines auteurs erhoben und damit einen Regisseur von Horror- und Softsexfilmen mit höchsten cinephilen Weihen geehrt, der selbst noch unter Trashologen oft einen schweren Stand besitzt: Insbesondere an primären Reizqualitäten interessierte Horrorfans stufen Francos langsam und wenig kohäsiv erzählte, an Plots oft völlig desinteressierte Filme als langweilig und konfus ein.

Dass bei einer solchen Arbeitsweise die Qualität im einzelnen, freundlich gesagt, schwankt, versteht sich zwar von selbst. Doch ist Franco mit dem wegwischenden Etikett „Trash-Regisseur“ nicht ohne Weiteres beizukommen: In fast allen seinen Filmen bricht sich ein Wille zum Stil, ein Überschuss an Ästhetisierung Bahn, der begrifflich schwer zu fassen, aber als Methode dem eingeschworenen Kreis der Franco-philen sofort ersichtlich ist.

Wie etwa in „Necronomicon – Geträumte Sünden“, einem frühen protopsychedelischen und, wie kolportiert wird, von Fritz Lang geschätzten Schlüsselfilm im Werk des Spaniers, in einer flirrend-entrückten Passage eine im blutroten Mantel gekleidete Frau traumwandlerisch durch das alte Lissabon streift, von der Kamera aus grotesk verzerrenden Perspektiven beobachtet, ist schönste, sinnliche Kinopoesie, vom Ballast von Theorie und Plausibilitätszwang ganz befreit. Selbst schuld ist, wer beim „Todesrächer von Soho“, einem herrlich pulpigen B-Movie mit dem unterschätzten Horst Tappert, überhaupt noch auf den wirren Plot achtet: Kaum eine Einstellung, die nicht zu allererst, aus spitzen Winkeln und unter unwahrscheinlicher Beleuchtung gedreht, ihre eigene Stilisiertheit ausstellt. Wenn Tappert sich hier im Nachtclub prügelt, wird er zum Gejagten einer entfesselten Kamera. Und selten starb Klaus Kinski schöner als in „Black Angel“, wo er unter Francos intimem Kamerablick sein Leben in Großaufnahme aushaucht.

Jess Francos Filme sind meditative Traumgebilde mit fast schon taktilen Qualitäten, gespeist aus den persönlichen Obsessionen des Regisseurs – häufig setzt er sich selbst als Darsteller mächtigen, rächenden Frauen aus – und frei von allen moralischen Auflagen. Vor allem aber bilden sie ein strikt persönliches Kino reiner Künstlichkeit, das sich seines performativen Charakters, seiner exhibitionierten Position innerhalb eines Geflechts wechselwirksamer Blickachsen stets bewusst bleibt: Nicht zufällig genießen minutenlange laszive Nachtclub-Performances zwischen Theater, Grand Guignol und erotischem Tanz in zahlreichen seiner Filme eine privilegierte Position.

Zuweilen stellen diese Nachtclubszenen, wie etwa die sado-masochistische Séance, mit der „Necronomicon“ beginnt, den Status des Filmbildes in Frage. Was zunächst echt und drastisch wirkt, ist einen analytischen Schnitt später als Kunstblutaktion vor klatschendem Publikum zu erkennen. Ganz ähnlich wird in Jess Francos erotophilem Horrorkino alles Erotische Material eines verabredeten, flüchtigen Spiels.

■ Jess-Franco-Retrospektive: ab 3. 8. im Babylon-Mitte, Programm unter www.babylonberlin.de/jessfranco.htm