Gekommen, um im Betonberg zu bleiben

NACHTLEBEN Buchstäblich mit der Axt hat Stephan Kallage mitten im Kreuzberger Sanierungsgebiet Platz für einen hippen Veranstaltungsort geschaffen. Inzwischen bringt er die Kunstszene dazu, gern in Pisse und Spritzen zu treten

Dass er die Gentrifizierung vorantreiben könnte, fürchtet er nicht: Die Junkies sind doch immer noch da

VON TIM CASPAR BOEHME

Konzeptkunst im Sozialbau? Nein, nein, dies ist keine neue Marktlücke, sondern vorerst eine Ausnahmeerscheinung. Der Kulturbetrieb mag zwar das Auflösen von Grenzen im Allgemeinen zu seinem Pflichtprogramm erklärt haben, doch im Konkreten liegen die Dinge manchmal anders. Für Galeristen etwa zählen sozial schwierige Gegenden nicht gerade zu den bevorzugten Settings. Doch vereinzelt gibt es Projekte, die tatsächlich Dinge zusammenbringen, die andere höchstens im Munde führen.

Das Berliner West Germany am Kottbusser Tor, also mitten in Kreuzberg, ist so ein Fall. Vor sieben Jahren eröffnet, gehört es heute mit dem Festsaal Kreuzberg, dem Monarch und der Paloma Bar zum sogenannten Bermuda-Dreieck am Kottbusser Tor, einer Ansammlung von Veranstaltungsorten rund um den Wohn-und-Geschäfts-Komplex „Zentrum Kreuzberg“, dem man bis heute schwer ansieht, das seine Planung aus den betonseligen sechziger Jahren stammt. Zwischen Sozialwohnungen, Junkies und Dealern sieht man da seit der West-Germany-Eröffnung immer mehr Kulturinteressierte umherziehen.

Statt sich aggressiv als smarter Kunstraum in „exotischer“ Umgebung zu präsentieren, integriert sich die Institution unauffällig in den Komplex. Sie liegt versteckt im zweiten Stock des Sanierungsbau-Ungetüms, zu erreichen über ein Treppenhaus, in dem es immer leicht streng riecht. Für Stephan Kallage, den Betreiber des West Germany, war die Wahl ein bewusster Schritt. „Ich wollte in diesen Betonklotz.“ Und das zu einer Zeit, als von einem Bermuda-Dreieck noch keine Rede sein konnte. „Vor sieben Jahren war nichts am Kotti, das kann man sich heute gar nicht vorstellen.“

Mittlerweile haben sich die verschiedenen Läden mit ihrem nächtlichen Angebot weitgehend vernetzt. Das West Germany nimmt dennoch eine Sonderstellung ein, da es im Unterschied zu den anderen Orten kein Club ist. Auf dem Programm stehen konzeptuelle Ausstellungen, Installationen, Performances, Konzerte und Vorlesungsveranstaltungen.

Genau genommen ist das „Büro für postpostmoderne Kommunikation“, so die offizielle Beschreibung, die Fortsetzung eines Kunstraums, den Kallage zuvor in Berlin-Mitte betrieben hatte, bis es ihm in dem längst durchgentrifizierten Stadtteil zu viel wurde. „In Mitte hab ich irgendwann das Kotzen gekriegt. Nur Leute, die reden, und da ist nichts dahinter.“ Ein bisschen Provokation war durchaus im Spiel, als er mit einigen Freunden in den Problembezirk umsiedelte. „Ich wollte, dass die Mitte-Kunstszene in die Pisse und die Spritzen treten muss. Und die ersten Reaktionen waren denn auch entsprechend.“

Von innen erweckt das West Germany den Eindruck, als sei es ein typisches Beispiel für Zwischennutzung, in diesem Fall in einer ehemaligen Arztpraxis, der man einige Mauern weggeschlagen hat. Die Wände sind vollgeschrieben, an der Decke zeichnen sich die Reste der ehemaligen Raumaufteilung ab – wie ein Provisorium, bei dem man einfach keinen Sinn darin sah, groß zu renovieren.

Der Eindruck täuscht. Das West Germany ist kein Übergangsort, der darauf wartet, von Investoren aufgewertet zu werden. Man ging bei der Gestaltung planmäßig vor. „Wir haben eine Axt genommen, das Ding eingehackt“, ganz im Stil des Künstlers Gordon Matta-Clark, der bei seinen Aktionen Häuser zersägte. Die angerissenen Mauerreste an der Decke sind Teil des Konzepts.

Genauso wie der banal wirkende Umstand, dass Stephan Kallage einen Mietvertrag hat, „praktisch unbefristet“, wie er sagt. „Das ist ein wichtiges Statement. Gerade seit der Finanzkrise.“ Damit stellt er eine in der Kulturszene lange Zeit vorherrschende Wirtschaftsform auf den Kopf: „Man kann keine Zwischennutzung mehr machen, man muss selbst GmbHs gründen. Alles andere ist Luxus-Zeitvertreib oder ‚Be Berlin‘-City-Marketing.“

Kallage, der nach seiner Jura-Ausbildung bei dem Medienwissenschaftler Friedrich Kittler studierte, sieht das West Germany als ein Beispiel für angewandte „materialistische Medientheorie“. „Ich wollte nicht einfach einen Kunstraum aufmachen. Das ganze Ding, der Betonklotz, ist ja schon das Medium, es ist an sich eine Skulptur. Mit der Decke, mit dem Namen, der zunächst völlig kontingent war.“

Getauft wurde das West Germany nach einem Einfall des Konzertveranstalters Ran Huber von amStart, mit dem Kallage öfter zusammengearbeitet hatte. Seitdem benennt der Name das Konzept des Raums: „Das Label ‚West Germany‘ steht symbolisch-provokativ für eine verblassende BRD-Romantik und Erinnerungsspur zwischen vage-wehmütiger Retro-Reverie, Kitsch und gegenwärtiger Selbstidentifikation.“

Dazu gehört für Kallage unter anderem, dass es keine Hängeausstellungen nach herkömmlichen Galerien-Modell bei ihm gibt: „Man kann eigentlich nur noch Ausstellungen machen, die Workshops sind oder Seminare oder selbstermächtigende Bildungsgruppen.“ Ein Beispiel für diesen Ansatz sind die Interflugs-Lectures, organisiert von Studenten der Berliner Universität der Künste. Statt Bildbetrachtung gibt es Marx-Lektüren oder Workshops mit Kulturarbeitern. Die Veranstaltungen sind dabei nicht als Ergänzung zum Kunstprogramm zu verstehen, sie sind selbst Kunst. An diesem Samstag wird übrigens die Installationsperformance „You Are Here aka The Maze“ eröffnet (bis 29. September).

Zwischennutzungen sind doch nur Luxus-Zeitvertreib. Heute muss man GmbHs gründen!

Damit stellt sich das West Germany entschlossen gegen jegliche „Event-Kultur“. „Jede Ausstellung ist im Grunde ein Event. Alles, was sich im Event auflöst, kannst du nicht mehr mitmachen. Ich sage oft, alle Künstler müssten eigentlich aufhören, ihre genuine Kunst zu machen, und die Dinge in die Hand nehmen oder einen Sitzstreik machen und sagen: He, jetzt wird das Ding mal geregelt, weil es läuft einfach nicht mehr!“

Das „Ding“ ist für Kallage die Finanzkrise von 2008, der die Kunst in der Mehrheit wenig entgegenzusetzen habe. „Die bildende Kunstszene ist eigentlich tot. Die sind in ihren alten, West-Germany-ideologischen Konstrukten unterwegs und denken halt: ja, es ist jetzt ein bisschen Krise und dann ist demnächst wieder ein bisschen Wirtschaftswachstum, die Art Basel ist ja auch gut gelaufen. Die sehen nicht diesen paradigmatischen Bruch, den ich die ‚Lehman-Brothers-Zäsur‘ getauft habe. Seitdem kann man gar nicht mehr so arbeiten.“ Mit anderen Worten: The Party is over.

Dass es im West Germany auch Konzerte von experimentellen Musikern oder in Deutschland weniger bekannten Indie-Rock-Bands gibt, bildet da keinen Widerspruch, sondern zählt zum ökonomischen Konzept, das auf Unabhängigkeit setzt. Die Einnahmen aus den Konzerten dienen komplett der Finanzierung des Gesamtprojekts. Zu hören gab es unter anderem die New Yorker Experimentalrocker Dirty Projectors – bevor sie sich hierzulande größerer Bekanntheit erfreuten. Andererseits standen auch schon Underground-Größen wie der No-Wave-Veteran Arto Lindsay auf der Bierkisten-Bühne des Hauses.

Finanziell ist das West Germany gleichwohl ein Selbstausbeutungsmodell. Sein Geld verdient Kallage als Assistent des Künstlers Jonathan Meese, obwohl schon die Arbeit für das West Germany ein echter Vollzeitjob sei. Kallage nimmt es idealistisch: „Non-profiting ist wichtig. Das gibt es ja fast nicht mehr.“ Hauptsache, man stecke seine Energie in die Kunst, ganz im Sinne des Dichters Rolf-Dieter Brinkmann, frei „nach einem taz-Redakteur“: „Vergesst, dass es so etwas wie Kunst gibt, und fangt einfach an!“

Dass er mit dem West Germany die Gentrifizierung des Zentrums Kreuzberg vorantreiben könnte, fürchtet Kallage nicht: „Die Junkies sind ja immer noch da und die Hartz-IV-Leute, die länger als jede West-Germany-Party bei uns nebenan fernsehen.“ Vielmehr setzt Kallage, ohne sich großen Illusionen hinzugeben, auf gute nachbarschaftliche Beziehungen. Am liebsten wäre es ihm, die Leute aus der Umgebung schauten ab und zu bei ihm vorbei. Immerhin: Mit dem Imbissbudenbesitzer unten im Haus hat er sich schon angefreundet.