Politologin über die Krise der Demokratie: „Linkspopulismus ist die Alternative“

Die Politologin Chantal Mouffe über die Agonie der Großen Koalition, den neoliberalen Modernisierungskurs der SPD und die Schwierigkeiten eines neuen linken Projekts.

„Es geht darum, einen Diskurs zu konstruieren, der ImmigrantInnen und ArbeiterInnen mit einschließt.“ – Protest in Madrid. Bild: reuters

taz: Frau Mouffe, in Deutschland regiert seit Kurzem eine Große Koalition. Was bedeutet dies für die politische Streitkultur?

Chantal Mouffe: Ich glaube nicht, dass eine Große Koalition gut für die Demokratie ist. Aber Koalitionen sind nicht einfach eine arithmetische Frage. Eine linke Koalition hätte eines politischen Projekts bedurft. Vielleicht ist im Moment kein linkes Projekt möglich, da das Problem tiefer sitzt.

Inwiefern?

Wir brauchen Parteien mit unterschiedlichen Programmen und echten demokratischen Alternativen. Im Moment erleben wir eher eine postpolitische Situation, die sich in einer Krise der repräsentativen Demokratie ausdrückt.

Wovon leiten Sie das ab?

Viele Protestbewegungen, die wir in letzter Zeit gesehen haben, gingen von Menschen aus, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Ein Slogan der Indignados in Spanien war: „Wir haben eine Stimme, aber wir haben keine Wahl.“ Und das ist es, was ich meine. Der Unterschied zwischen Mitte-links und Mitte-rechts ist wie die Auswahl zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola.

geb. 1943 in Charleroi, Belgien, ist Professorin für Politische Theorie an der University of Westminster in London. Zusammen mit Ernesto Laclau schrieb sie „Hegemonie und Radikale Demokratie“ (1985). Zuletzt erschien „Agonistics. Thinking the World Politically“ (2013) bei Verso, London.

Beschreiben Sie da nicht eigentlich die Krise des politischen Personals?

Ich glaube nicht, dass es allein eine Frage der Macht ist. Sozialdemokratische Parteien bieten keine Alternativen zur neoliberalen Hegemonie in ihren Programmen an. Ich sehe derzeit keine sozialdemokratische Partei, die sich für ein anderes Projekt starkmacht.

Dann ist es egal, welche Parteien regieren?

Natürlich ist es besser in Deutschland, wenn es jetzt einen Mindestlohn gibt. Tony Blair und Gordon Brown in Großbritannien haben auch ein paar redistributive Maßnahmen verantwortet, als sie regiert haben. Die Dinge wurden unter ihnen also ein bisschen besser. Allerdings begnügten sie sich damit, die neoliberale Globalisierung zu managen und ihr ein bisschen humaneres Gesicht zu geben. Es ist schwer zu glauben, dass die SPD etwas fundamental anderes gemacht hätte, wenn sie bei der letzten Wahl als Siegerin hervorgegangen wäre. Ein radikales Projekt kann sowieso nur auf gesamteuropäischer Ebene gedacht werden.

Europa wird doch radikal anders gedacht. Allerdings von PolitikerInnen wie Marine Le Pen und Geert Wilders oder der Alternative für Deutschland.

Hierin sehe ich ein anderes Problem der Sozialdemokratie: Sie repräsentieren nicht mehr die Arbeiterklasse. In den meisten europäischen Ländern identifizieren SozialdemokratInnen sich mit der Mittelklasse. Das ist genau jene Gruppe von Menschen, die von der neoliberalen Globalisierung profitiert. SozialdemokratInnen wollen heute Modernisierer sein. Sie halten die traditionelle Arbeiterklasse für archaisch und obsolet. Marine Le Pen hat Erfolg in Frankreich deshalb, weil sie es versteht, zu solchen Menschen zu sprechen. Das Problem ist, dass sie mit rassistischen Parolen gegen muslimische ImmigrantInnen hetzt und die SozialdemokratInnen dort keine Strategie dagegen haben. RechtspopulistInnen wissen, dass es in der Politik um Leidenschaften und Affekte geht, mit denen sich Menschen identifizieren können.

Welche Arbeiterklasse meinen Sie eigentlich?

Es gibt sicherlich kein Proletariat mehr. Aber es gibt ungelernte ArbeiterInnen, die sich nicht vom Modernisierungskurs der Sozialdemokratie angesprochen fühlen. Diese Menschen fühlen sich bedroht von der neoliberalen Globalisierung. Es geht darum, einen Diskurs zu konstruieren, der ImmigrantInnen und ArbeiterInnen mit einschließt und sich gegen transnationales Kapital und die Banken richtet. Damit wären wir beim Linkspopulismus, den ich als Alternative vorschlage.

Das hört sich so an, als ob Sie die Existenz eines Feindes, wie zum Beispiel das transnationale Kapital, bei Ihren Ausführungen zum Linkspopulismus voraussetzen.

Natürlich. Um eine kollektive Identität zu konstruieren, muss ein „wir“ von einem „sie“ unterscheidbar sein. „Das Volk“ wird immer politisch konstruiert. Dazu braucht es einen Gegner. Ich glaube aber nicht, dass soziale Bewegungen wie Occupy oder die Indignados dabei alleine erfolgreich sein können. Wir müssen anerkennen, dass die Linken heute verschiedene Anliegen haben. Ich plädiere auch nicht für die Hegemonie einer reformierten Sozialdemokratie. Ein neues linkes Projekt muss auch ökologisch sein. Ebenso kann Die Linke in Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Die Synergien all dieser Gruppierungen und Parteien müssen zusammen an der Bildung des Gemeinwillens wirken. Syriza in Griechenland ist ein gutes Beispiel hierfür.

Für mich klingt das nach einer rot-rot-grünen Koalition in der Regierung, die gemeinsame Sache mit einer 68-ähnlichen Bewegung unter einem neuen Rudi Dutschke macht ?

Ich glaube, dass zum Beispiel die Studentenproteste in Chile zeigen, dass eine solche Allianz möglich ist. Camila Vallejo ist eine charismatische Studierendenführerin, die die Kommunistische Partei dort zu einer Regierungsbeteiligung bewegt hat. Trotzdem hat die dortige KP eigene Projekte und kritisiert, wo sie es für angemessen hält.

Die Deutschen scheinen das aber nicht zu wollen. SozialdemokratInnen wollen mit Merkel regieren, die mit großem Vorsprung die Wahl gewonnen hat.

Das ist wahr, denn die Mehrheit der SozialdemokratInnen scheint damit glücklich zu sein, in eine Große Koalition zu gehen. Aber Angela Merkel könnte ein Indiz dafür sein, was ich gesagt habe. Erhält Merkel nicht vielleicht mangels wirklicher Alternative so viel Zuspruch? Die Frage ist also: Sind Menschen wirklich glücklich oder sind sie nicht einfach ein bisschen fatalistisch geworden?

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