Wachtürme in den Dünen

FLUCHTTHEATER Der Vernichtung gerade so entkommen, stießen zahlreiche europäische Juden am Ziel ihrer Reise wieder auf Gewehre und Stacheldraht. Von Flucht und Umkehr ausgerechnet ins Land der Lager erzählt die Theatertruppe Das Letzte Kleinod im Stück „Exodus“

VON ANDREAS SCHNELL

Es ist natürlich nicht das Gleiche, als illegaler Einwanderer interniert zu werden – statt in einem deutschen Konzentrationslager auf die eigene Vernichtung zu warten. Eine bittere Volte der Geschichte aber ist es: Zehntausende Juden aus ganz Europa, der „Endlösung“ mit Glück entronnen, die über Marseille ins heutige Israel unterwegs waren, wurden von britischen Truppen entweder dort interniert – oder sogar zurückgeschickt. Manche bis nach Deutschland, wo sie in Kasernen untergebracht wurden, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Jens-Erwin Siemssen von der Gruppe Das Letzte Kleinod stieß bei einer Produktion in Emden auf eine Zeitzeugin, die sich daran erinnerte: In der der dortigen Karl-von-Müller-Kaserne waren Juden untergebracht, im Winter 1947/48. Siemssen fing sofort Feuer, solche Geschichten liebt er, danach sucht er. Und manchmal könnte man meinen, sie liefen ihm regelrecht zu: Geschichten mit Bezug zum deutschen Nordwesten, historischen Dimensionen und internationalen Anknüpfungspunkten.

Theater macht Siemssen seit den frühen Neunzigerjahren, dokumentarisch, „site specific“ – ortsspezifisch. In aller Welt hat er schon recherchiert und mit seiner Truppe gespielt, mit Akteuren aus jenen Ländern, in denen die fernen Enden der Geschichten liegen, die bis an Orte führen wie Cuxhaven oder Bremerhaven. Oder eben Emden. In rund 20 Jahren hat Siemssen sich so mit dem deutschen Kolonialismus beschäftigt, mit gescheiterten Antarktisexpeditionen, Piraterie am Horn von Afrika, chinesischen Wäschern auf deutschen Schiffen und dem Kabeljaukrieg, der 1977 zwischen Großbritannien und Island herrschte.

Jetzt also die Geschichte der „Exodus“: 4.500 Flüchtlinge sollte der ehemalige Vergnügungsdampfer „President Warfield“, einst gebaut für 400 Touristen, 1947 nach Palästina transportieren. Kriegsschiffe der britischen Mandatsmacht brachten das Schiff kurz vor der Küste auf, verfrachteten die Flüchtlinge auf drei Gefängnisschiffe, die sie zunächst Richtung Frankreich brachten und dann nach Deutschland, in das Land, in dem sie ihre Angehörigen und Freunde verloren hatten. Dort überwinterten sie – zumindest die, die nach der Überfahrt noch lebten.

Die Geschichte der „Exodus“ ist 1960 mit Paul Newman und Esther Ofarim als dreieinhalbstündiges Epos verfilmt worden. Mit Hollywood hat das Theater von Jens-Erwin Siemssen und seinem Kleinod nicht viel zu tun: Wo Hollywood von der Gründung des Staates Israel erzählt, ist Siemssen bei den „kleinen Leuten“, wie er es nennt. Ihre Geschichten will er erzählen. Dass sich darin natürlich Politik, Weltpolitik, Geschichte niederschlagen: Es ist so banal, wie es andererseits existenziell ist. Gerade die intimen Geschichten machen die politischen Verhältnisse als gewaltsame greifbar.

Nachdem Siemssen schon vor rund einem Jahr zehn Zeitzeugen interviewt und eine Stückfassung geschrieben hatte, zog er im April nun gleich mit dem gesamten Produktionsteam und Ensemble – sowie einigen Journalisten – ins Gelobte Land, um „Exodus“ zu proben und vorab eine Werkstattaufführung zu geben. Die Förderung, unter anderem durch den Fonds darstellende Kunst e. V. im Rahmen des Programms „Un-Orte/Theater im öffentlichen Raum“ machten den beträchtlichen Aufwand möglich. Ein Container mit Technik, Zelten, mobiler Küche und Büro reiste mit, ebenso der größte Teil des Ensembles, lediglich ein Schauspieler kommt erst in Emden zur Uraufführung dazu.

Zwei Wochen verbringt das internationale Ensemble südlich von Haifa im Gefangenenlager in Atlit, inzwischen eine Gedenkstätte. Es sollen keine Ferien an der Sonne werden, auch wenn das Meer schon warm genug zum Baden ist. Die Gedenkstätte ist selbst vom Örtchen Atlit weit genug entfernt, um nicht mal so eben rauszukommen, auch wenn die Tore offen sind und die Soldaten mit den Maschinengewehren bloß Pappkameraden.

Ein bisschen gruselig aber ist der Ort: Umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen, Eisenbahnwaggons und Schiffswracks, mit dem Wissen um die Geschichte des Ortes und die Gegenwart Israels. Ab und an hört man von jenseits des Bahndamms Patrouillenboote und Schießübungen der nahe gelegenen Militärbasis. Abends gilt das erst recht, wenn Siemssen seine Durchlaufproben macht. Zweimal gibt es in Atlit auch Werkstattaufführungen, Zeitzeugen sind eingeladen, einige kommen – und sogar einige, die Siemssen noch nicht kennt.

Im Hintergrund rauschen Palmen und das Meer, das Lager ist von Scheinwerfern in gespenstisches Licht getaucht. Wachtürme ragen aus den Dünen zum Strand hin, dem Strand, der den Flüchtlingen einst im Sonnenglanz verheißungsvoll von einem neuen Leben kündete. Und der dann wieder unerreichbar schien.

Die Begegnung mit den Zeitzeugen ist für die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles eine erschütternde Erfahrung. Eine von ihnen erzählt, wie sie nach dem Gespräch mit zwei Frauen, die damals auf der „Exodus“ mitfuhren, einen Zusammenbruch hatte. Und auch das Leben im ehemaligen Lager, zwischen Zäunen, Baracken und alten Eisenbahnwaggons, lässt keinen kalt: „Das ist wirklich passiert!“, bringt es eine der Schauspielerinnen auf den Punkt. Wirklichen Menschen passiert, möchte man ergänzen.

Die Uraufführung findet auf dem Gelände einer jener Kasernen statt, wo damals einige der Flüchtlinge über den Winter untergebracht waren. In der Woche drauf wird in einer anderen Kaserne gespielt, in der einst „Exodus“-Flüchtlinge untergebracht waren. Auch das dürfte nicht nur für das Ensemble eine intensive Erfahrung sein, aus der sich durchaus allgemeinere Erkenntnisse ziehen lassen. Dass mit dem Krieg das Grauen noch nicht vorbei war, zum Beispiel.

■ Uraufführung: Mittwoch, 14. Mai, 21 Uhr, Emden, Karl-von-Müller-Kaserne ■ weitere Termine: bis 17. Mai, tägl. 21 Uhr, 22. bis 24. Mai, je 21 Uhr, Wilhelmshaven, Admiral-Armin-Zimmermann-Kaserne; 29. Mai bis 4. Juni, tägl. 21 Uhr, Bremerhaven, ehemalige Carl-Schurz-Kaserne, Internet: www.das-letzte-kleinod.de