DVDESK
: Ohne Selbstgerechtigkeit gerecht mit sich selbst

„Der Letzte der Ungerechten“ (F 2013, Regie: Claude Lanzmann)

Die erste Frage, die man Benjamin Murmelstein nach der Befreiung von Theresienstadt stellte, lautete: „Warum leben Sie?“ Der jüdische Gelehrte Gershom Scholem hätte Murmelstein, wie er an Hannah Arendt schreibt, am liebsten aufgeknüpft gesehen. Im Eichmann-Prozess hat man auf sein Zeugnis dankend verzichtet, obwohl er mit Eichmann bestens bekannt war – und diesen übrigens als „Dämon“ und keineswegs als Inbegriff der Banalität des Bösen kennengelernt hatte. Murmelstein war der letzte Judenälteste von Theresienstadt. Judenältester hieß: eine Art Bürgermeister von Gnaden der Nazis in diesem KZ, das in der NS-Propaganda als Ghetto, wenn nicht als eine Art Sanatoriumsbetrieb für vorwiegend alte Juden figurierte.

Mitte der siebziger Jahre suchte Claude Lanzmann Murmelstein während der ausgedehnten Recherchen zu seinem „Shoah“-Projekt auf. Er verbrachte eine Woche mit ihm in Rom, wo Murmelstein ohne Kontakt mit der jüdischen Gemeinde nach dem Krieg lebte. Eine Existenz als Nachleben in einer Art Limbo, trotz eines Freispruchs nach dem Krieg verurteilt ohne wirkliches Urteil.

Der philosophisch und theologisch hochgelehrte Murmelstein verdiente sein Geld als angestellter Möbelverkäufer, daneben betrieb er für sich Studien in der Vatikanischen Bibliothek. Aus der öffentlichen Ächtung wurde er zu Lebzeiten nicht entlassen. Noch nach seinem Tod hat ihm der Rabbi von Rom ein ehrenvolles Begräbnis verweigert.

Über den Dächern Roms, auf einer Terrasse, in seiner Wohnung und auf dem Forum Romanum sitzt und geht Murmelstein und steht Lanzmann, der ihm zunächst offenkundig mit großen Vorbehalten begegnet, Rede und Antwort. Elf Stunden Filmmaterial wird in dieser Woche gedreht. Eigentlich hatte Lanzmann geplant, Teile davon in „Shoah“ zu integrieren. Es wollte ihm nicht gelingen, zu sehr stand Murmelstein, als Person und Figur, quer und für sich. Als einen „Unsinn“ und einen „Dinosaurus auf der Autobahn“ sieht er sich selbst, ohne mit etwas oder jemand zu hadern; ohnehin ist er der denkbar größte Deuter seiner eigenen Lage und seiner eigenen Taten, mit „schaun Sie“ leitet er die meisten Sätze ein – und dann zeigt er, in Bildern, in Bezügen auf literarische und mythische Figuren und Bilder, und man schaut und man staunt und erlebt einen Mann, über den man vor allem eins sagen kann: Er erklärt sich.

Er erklärt sich als Scheherazade, die das Märchen vom schönen Ghetto Theresienstadt weitererzählte, weil nur so die geringste Chance bestand, dass es nicht liquidiert wurde, und seine Insassen mit ihm. Er erklärt sich als Sancho Pansa, nichts als die Realität aus der Bodenperspektive im Blick. Er war kein Held, sagt er. Aber er hat mit Sicherheit viele Leben gerettet, durch Geschick, Mut, entschlossenes Handeln. Er war nicht beliebt bei den Lagerinsassen, er war eine durch und durch unreine Figur, er leugnet nicht Spuren von Abenteuerlust und Genuss an der Macht, die er der Ohnmacht abringen konnte. Man denkt, wenn man ihn postum so sieht, voller Leben, hochintelligent, nicht zu bändigen, redend und redend: Er ist ohne Selbstgerechtigkeit gerecht mit sich selbst.

Murmelstein erklärt sich. Und nun, fast vierzig Jahre nach der Woche in Rom, hat Claude Lanzmann, selbst nun fast neunzig, das Interview-Material als Schlussstein des „Shoah“-Projekts zu einem Film ganz eigenen Rechts kompiliert. Er schließt an „Shoah“ an und fällt doch heraus. Lanzmann steht in Theresienstadt als Monument seiner selbst und liest Texte vom Blatt. Am Ende legt er vor dem Forum Romanum seinen Arm um den letzten der Ungerechten: Benjamin Murmelstein ist nicht gerichtet, sondern erlöst. EKKEHARD KNÖRER

■ Die DVD ist ab rund 15 Euro im Handel. Daneben ist der Film auch in einigen wenigen Kinos in Deutschland zu sehen.