Debatte Infotainment: Wir Meinungsspekulanten

Der politische Journalismus giert nach Rücktritten und Krisen. Indem er Politik auf persönliche Dramen reduziert, schadet er der Demokratie.

Wäre der politische Journalismus selbstkritisch, er würde seinen Charakter und sein Geschäftsgebaren in der Finanzindustrie wiedererkennen; bloß der Rohstoff ist ein anderer, Informationen statt Geld. Sein Hauptgeschäft ist nicht mehr der solide Handel mit verlässlichen Nachrichten und erklärenden Analysen, sondern die immer riskantere Spekulation mit Halbgarem. Ursula von der Leyen ist die Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Sicher. Bis zum nächsten Morgengrauen.

Die Wette auf Ende Juni fordert all seine Energien: Bundespräsident Joachim Gauck stürzt Kanzlerin Angela Merkel. Die Politikressorts und ihre Korrespondenten auf der Pirsch. Da wird jedes Gerücht über potenziell abtrünnige Wahlmänner und -frauen mit Veröffentlichung gewürdigt, und kein Kompliment für Gauck ist zu billig, um damit nicht an seinem Heiligenbild zu pinseln. Erscheint er als Erlöser, dann springen noch der X und die Y von der FDP ab, wählen Gauck, und dann trudelt die Merkel, und …

Die Jäger fantasieren sich den publizistischen Braten fett. Die Spekulanten gieren nach Rücktritten und Krisen. Eine Elitenvernichtungsmaschine auf Hochtouren: täglich ein Messias, täglich ein Hingerichteter. In den Händen des Journalismus wird jeder Konflikt zur Krise, alle Krisen werden gleich groß, er kennt Helden oder Flaschen. Diese veröffentlichte Meinung blockiert demokratische Politik.

Die Scharfrichter sind sich sicher: Der Köhler konnte es nicht. So sicher wie damals - ein Vorgang von zahllosen -, als sie im Herbst 2008 Kurt Beck wieder in die Provinz jagten und Franz Müntefering anhimmelten. Die Zeit schwärmte damals mit vielen anderen, Müntefering sei ein "Segen" für die SPD - er, "die Schlüsselfigur des Wahlkampfs 2009", wie er geschmeidig umschalte "vom nachdenklichen Programmpolitiker zum polemischen Kämpfer". Am Ende dann: Der konnte es auch nicht.

Warum hilft Merkel Opel nicht? Warum hat sie Koch vertrieben und Köhler nicht gehalten? Warum hat sie die Finanzkrise nicht im Griff? Warum haut sie nicht auf den Tisch? Der politische Journalismus personalisiert gnadenlos - und wehe die Verantwortlichen haben nicht die Gaben eines Herkules. Der Name einer bald 55-jährigen Pfarrerstochter, aufgefallen mit besonders guten schulischen Leistungen in Russisch und Mathematik, wird als Passepartout für alle Probleme und Krisen benutzt.

Diese Art von Journalismus kennt keine Wahlergebnisse und keine Machtstrukturen, keine internationalen Verflechtungen und wirtschaftliche Konkurrenz, keine kulturellen Hintergründe und keine Zwänge der Verhandlungsdemokratie - alles nebensächlich, auf Angela kommt es an. Wenn die Bundeskanzlerin auf ein tatsächliches Drama aufmerksam macht - "Die Politik muss das Primat über die Märkte wiedererlangen" -, dann wird nicht gefragt, sondern weitergemacht.

Der gewöhnliche Politikjournalismus verlässt sich auf das Welterklärungsmodell von Geisterbeschwörern: die eine göttliche oder teuflische Gestalt ist für alles verantwortlich. Um sein erstes Gebot zu erfüllen, Aufmerksamkeit zu schüren, ist inzwischen nicht nur der Boulevardjournalismus bereit, alles zu verheizen. Die gute alte Zeit, in der nur Bild dummmachte, ist vorbei. Auf die immer komplizierteren Entscheidungssituationen der Politik reagieren die meisten Journalisten mit immer banaleren Personalisierungen, die Ereignisse in Duelle umwandelt: Merkel gegen …, Wulff gegen …, Gabriel für …, Niederlage oder Sieg, Schwarz oder Weiß.

High Noon als Endlosschleife. Die Demokratie als Entscheidungsduelle von wenigen und nicht als Aushandlungsprozesse von vielen. Denkt Politik nach, bittet sie um Geduld, prüft und debattiert sie, dann wird sie bestenfalls karikiert, meist verachtet. Das Kerngeschäft: plumpe Personalisierung + riskante Spekulation = Personalspekulation.

Die beiden Alibis: Das Publikum will es. Und: Sie wissen ja nicht, wie schlimm das alles ist, seit es das Internet gibt. Jede Sekunde wird ein neues Ereignis "hochgezogen", ungeprüft und dafür mit aller Dramatik, und das sieht mein Chefredakteur, und dann muss ich das auch machen. Die Treiber produzieren Getriebene und werden selbst zu Getriebenen. Wie der Finanzmarkt mit Geld und Schrottpapieren, so spekuliert der Meinungsmarkt mit Informationen und Gerüchten. Je riskanter desto höher die Aufmerksamkeit. Wer seinen Beruf noch als Instanz der Aufklärung versteht, leidet.

Was der politische Journalismus dagegen der Politik ungeprüft durchgehen lässt, das sind beispielsweise die vielen gängigen dümmlichen Deutungsmuster: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. Jeder kann nur das ausgeben, was er zur Verfügung hat. Steuererhöhungen schaden dem Wachstum. Mit solchen Irreführungen werden politische Weichen gestellt. Sich damit auseinanderzusetzen, dafür fehlt natürlich die Zeit.

Der politische Journalismus ist sich in allem sehr sicher, besonders seiner selbst. Umgeben von Versagern weiß er: Yes, we can. Dass ihm in allen Untersuchungen ein verheerendes Image zugebilligt wird, das verdrängt er oder bezweifelt die Seriosität der Umfrage. Wer es wagt, ihn zu kritisieren, dem geht es schlecht.

Zwei Ausschnitte aus einer Rede, gerichtet an die Hauptstadtjournalisten: "Was soll man davon halten, wenn viele von Ihnen gern ein Urteil über die Dienstwagennutzung der Gesundheitsministerin zum Besten geben, aber die wenigsten ein kompetentes Urteil über die Gesundheitspolitik der Ministerin abgeben können?" Und: "Haltung haben. Es ist ein ziemlich altes Wort. Aber ich finde, es könnte mal wieder in Mode kommen. Genau wie ein anderes, viel schlichteres Wort: Ahnung haben. Zusammen sind sie stark, meine ich."

Bundespräsident Horst Köhler "überlebte" diese seine Ansprache (Titel: "Aufklärung braucht Haltung"), die er bei einer Veranstaltung zu "60 Jahre Bundespressekonferenz" hielt, nur ein halbes Jahr in seinem Amt. Gescheitert sei er, heißt es, genau: auch an "seiner schlechten Presse".

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