Schwulst und Ranküne

AUTORITARISMUS In Ungarn beschneidet Premier Victor Orbán die Demokratie. Sein Land droht zum Vorbild für andere Staaten in Osteuropa zu werden

■ 43, schreibt als freier Journalist über südosteuropäische Laender (Schwerpunkt: Rumänien und Ungarn) sowie über Wissenschaftsthemen (Astronomie, Astrophysik und Raumfahrt). Er lebt in Berlin.

Selten stand Ungarn in den letzten zwei Jahrzehnten so im Kreuzfeuer internationaler Kritik wie jetzt. Das Echo auf das kurz vor Weihnachten in Budapest verabschiedete Mediengesetz ist vernichtend. Doch die harschen Urteile, die jetzt in Brüssel, Berlin und anderswo gefällt werden, werfen die Frage auf: Hat denn keiner dort bemerkt, was sich in Ungarn seit Langem abspielt?

Das Mediengesetz ist nicht der erste Anlauf, den Viktor Orbán, Ungarns selbstherrlicher Ministerpräsident, und seine Partei, der Bund Freier Demokraten (Fidesz), unternehmen, um die Vierte Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Es ist auch längst nicht ihr einziges antidemokratisches Vorhaben. Sie sind vielmehr dabei, das Land umzubauen, um ihre Macht auf lange Sicht zu zementieren. Die Zweidrittelmehrheit im Parlament, die sie bei den Wahlen Ende April letzten Jahres erringen konnten, hat sie dafür in eine komfortable Ausgangslage gebracht.

Seither wurden Verwaltung und Behörden, öffentlicher Dienst, Kultur- und Bildungseinrichtungen gesäubert, der Aufbau des Parlaments und die Wahlgesetzgebung auf die Bedürfnisse der nunmehr einzigen großen Partei, des Fidesz, zugeschnitten sowie die Verfassung geändert und die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes stark eingeschränkt. All das ist drastische, aber noch keine außergewöhnliche Machtpolitik.

Ein Land wird umgekrempelt

Nicht Orbáns sattsam bekannte Obession für Macht und Machterhalt ist das Bemerkenswerte nach knapp neun Monaten Regierungszeit. Bemerkenswert ist vielmehr, auf welch große Zustimmung es innerhalb Ungarns trifft – und wie groß das Schweigen im Ausland bisher dazu war –, dass in einem EU-Land im Herzen Europas ein nur noch formal demokratisches, neokorporatistisches Staats- und Gesellschaftsmodell verwirklicht wird. Mag Viktor Orbán ein wendiger Machtpolitiker sein: dieses Modell ist es, das er umsetzen möchte.

In der Nacht seines historischen Wahlsieges am 25. April 2010 konnten es alle hören: Orbán erklärte das Wahlergebnis zur „Revolution“. Seine Rede enthielt alle ideologischen Versatzstücke, die für ihn typisch sind: Rufe nach Recht, Ordnung und starkem Staat, quasireligiöse Heilsversprechen, rechtsnationalistische und zugleich linkspopulistisch-antikapitalistische Parolen, Volksgemeinschaftsrhetorik. Orbán verkündete die Schaffung eines „neuen Systems der nationalen Konsultationen und der nationalen Zusammenarbeit“, in dem die Exekutive in ständigem direktem Kontakt mit Teilen des Volkes steht, um die Nation auf den richtigen Weg zu führen.

Arbeit, Familie, neue Ordnung

Wenige Wochen nach dem Wahlsieg verabschiedete das neue Parlament eine „Politische Erklärung“, die seither in allen Behörden aushängen muss. Darin wird, in schwülstigem Ungarisch, das Wahlergebnis zum Votum der Ungarn für die neue „Ordnung der Nationalen Zusammenarbeit“ umgedeutet. Als „Säulen einer gemeinsamen Zukunft aller Ungarn dies- und jenseits der Grenze“ gelten: „Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung“.

Ähnlich wird auch die neue ungarische Verfassung klingen, an der Viktor Orbán seit Monaten arbeiten lässt. Der Entwurf enthält beispielsweise einen Verweis auf die heilige Stephanskrone, das Symbol tausendjähriger ungarischer Staatlichkeit, das in der Zwischenkriegszeit unter dem Horthy-Regime die Schicksalsgemeinschaft aller Ungarn verkörperte und die Territorialansprüche auf ehemalige Gebiete Großungarns begründete. Selbstredend kommt den Medien in Orbáns neuer Ordnung eine besondere Rolle zu, die Ideologie der „Nationalen Einheit“ zu propagieren.

So wurde die ungarische Verfassung bereits im Juni letzten Jahres um einen Passus ergänzt, der die öffentlich-rechtlichen Medien verpflichtet, an der „Stärkung der nationalen Identität und des nationalen Zusammenhaltes mitzuwirken“. Dies nahm das Leitmotiv der folgenden Mediengesetzgebung vorweg.

Mit schwülstiger nationaler Rhetorik wurde vor sechs Monaten der Rauswurf des IWF aus Ungarn und im Oktober 2010 die sogenannte Krisensteuer begründet, die vor allem ausländische Großunternehmen trifft. Gern betont Viktor Orbán, die Epoche des „zerstörerischen und spekulativen Weltkapitalismus“ sei am Ende und in Ungarn nun die „Zeit des Neuaufbaus und des Schaffens“ angebrochen. Dass dieser nationale Antikapitalismus mit der Einschränkung von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten einhergeht, ist für ihn kein Widerspruch.

Bei seiner „Revolution“ von oben kann Orbán auf eine breite Zustimmung bauen. Europa hat dazu viel zu lange geschwiegen

Trister Gulasch-Kapitalismus

Mit einer starken Opposition muss Orbán nicht rechnen. Die Gewerkschaften sind schwach und zerstritten, die vormals regierenden Sozialisten wegen ihrer vielen Korruptionsaffären unglaubwürdig. Viele der unter 35-Jährigen haben sich den Rechtsextremisten der Jobbik-Partei zugewandt – ihnen sind selbst Orbán und der Fidesz zu etabliert.

Vor zwei Jahrzehnten galt Ungarn als Musterland im postkommunistischen Osteuropa. Heute zeigt sich, dass der Übergang in Ungarn (wie anderswo in Osteuropa) in vielerlei Hinsicht gescheitert ist. Die ungarische Gesellschaft ist müde und zermürbt von den zwei Jahrzehnten eines permanenten Übergangs. Die frühere Elite hat sich nahezu nahtlos ins neue System gerettet. Es herrschen Korruption und Misswirtschaft. Die ohnehin nur schwache Mittelklasse ist in Auflösung begriffen, eine Zivilgesellschaft existiert kaum. Alle Ansätze der letzten fünfzehn Jahre, Wirtschaft und Finanzen dauerhaft zu sanieren, waren erfolglos: vor knapp zwei Jahren stand Ungarn am Rand der Staatspleite.

Enthusiastische Politologen verwiesen Anfang der 1990er Jahre gern auf Ungarn, um zu zeigen, dass der Prozess der Demokratisierung in Osteuropa „irreversibel“ sei. Welch ein Irrtum. Sicher, eine lupenreine Diktatur werden Viktor Orbán und seine Partei vorerst nicht errichten. Doch sie führen ihren Nachbarn in der Region – oft fragile Demokratien mit Tendenzen zum Autoritarismus – vor, wie nuanciert man die Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien und demokratischen Werten betreiben kann. Wieder einmal – und das auf ganz andere Art als früher – ist Ungarn heute ein Musterbeispiel für andere osteuropäische Länder. KENO VERSECK