Debatte Gene: Was der Mensch ist

Nicht erst seit Thilo Sarrazin ist die Debatte über Identität und Intelligenz auf den Hund gekommen. Anmerkungen zum Stand der Forschung.

Gibt es eine genetische Identität von Volksgruppen? Haben diese Gruppen kollektive, genetisch determinierte Eigenschaften?

Zur Beantwortung dieser Fragen muss man wissen, dass der Genpool bei Menschen außerordentlich gering diversifiziert ist – deutlich geringer als etwa bei Schimpansen oder Gorillas. Evolutionsbiologisch gesehen ist der Mensch eine der genetisch homogensten Spezies, die es auf der Erde gibt.

Genetische Unterschiede zwischen den heutigen Volksgruppen lassen sich im Wesentlichen nur mit Hilfe von neutralen genetischen Markern (so nennt man variable DNA-Abschnitte) nachweisen, die per definitionem keine Rückschlüsse auf spezifische Eigenschaften erlauben. Neutrale Marker liegen in den großen Bereichen des Erbguts, die nicht codieren. Das heißt: Sie werden nicht in Genprodukte (etwa Proteine) umgesetzt. Variationen in diesen neutralen Bereichen sind nicht funktional. Sie unterliegen beziehungsweise unterlagen deshalb keinem Selektionsdruck, haben keinen Einfluss auf den Phänotyp (also auf die äußere Erscheinung) und sagen nichts über Eigenschaften aus.

Volksgruppen habe keine genetische Identität

Neutrale genetische Marker verhalten sich – eben weil sie neutral sind – nach statistischen Zufallsprinzipien. Mittels statistischer Methoden kann man anhand der Variation in den neutralen Markern die Frage klären, ob der durchschnittliche Unterschied zwischen Gruppen größer oder kleiner ist als die Varianz innerhalb der Gruppen. Wenn er größer ist, hat man meist ein gutes Argument, dass es sich um unterschiedliche Spezies, Subspezies oder Rassen handeln könnte (auch wenn das nie das einzige Argument ist). Beim Menschen ist der Unterschied zwischen den Gruppen viel kleiner als die Varianz innerhalb der Gruppen, es ergibt sich also kein Kriterium, auf genetischer Basis unterschiedliche Rassen zu definieren.

Diethard Tautz ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie. Gekürzte Fassung seines Beitrags in dem Sammelband „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin: Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik“ (Springer VS), in dem Sarrazins Thesen widerlegt werden.

Im Vergleich zum enormen technischen Aufwand, der betrieben wurde, um Unterschiede zwischen Volksgruppen zu belegen, sind bisher nur sehr wenige spezielle funktionale Anpassungen gefunden worden. Offensichtliche Unterschiede zwischen Menschengruppen gibt es bei der Hautfarbe oder bei der Fähigkeit, im Erwachsenenalter Milchzucker zu verdauen – aber das betrifft letztlich nur sehr wenige Genregionen. Eine genetische Identität (im Sinne von kollektiven, genetisch determinierten Eigenschaften) haben Volksgruppen also nicht.

Dennoch gibt es statistisch signifikante Unterschiede, und man kann sich Gedanken darüber machen, was diese bedeuten. Das haben viele Genetiker getan und sind zu dem Schluss gekommen, dass die ganz überwiegende Mehrzahl der Unterschiede durch neutrale, geografisch-historisch bedingte Prozesse zu erklären sind. Verschiedene Volksgruppen lebten eine Zeit lang in je unterschiedlichen Regionen – die räumliche Trennung hinterließ genetische Spuren.

Ein „Intelligenzgen" gibt es nicht

Die Genetik spielt in alle Eigenschaften des Menschen hinein, und das ist bei der Intelligenz nicht anders. Allerdings gehört die „Intelligenz“ zu den am wenigsten fassbaren Eigenschaften. Für etwas, das man nicht klar definieren kann, kann man aber auch keine klare Aussage zur Vererblichkeit machen. Fest steht: Ein einzelnes „Intelligenzgen“ gibt es nicht. Dass Kinder „gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern erben“ (Thilo Sarrazin), ist also Unsinn. Die mendelschen Gesetze beschreiben monogenetische Erbgänge, während Eigenschaften wie „Intelligenz“ von sehr vielen Genen beeinflusst werden. Über die Vererbungsmuster solcher komplexer Eigenschaften ist noch sehr wenig bekannt.

Durch die Neukombination des Genmaterials in jeder Generation ist jedes Kind einzigartig, und insbesondere in Bezug auf „Intelligenz“ lassen sich keine Vorhersagen für das Individuum machen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Genetik haben alle Volksgruppen grundsätzlich das gleiche genetische Potenzial für Intelligenzleistungen.

Dass es hierbei messbare Unterschiede zwischen Volksgruppen gibt, liegt daran, dass die Intelligenztests durch kulturelle Vorerfahrungen beeinflusst werden. Jede Volksgruppe, die einen Intelligenztest auf der Basis ihrer eigenen Kultur entwickeln würde, würde feststellen, dass die meisten anderen Kulturen durchschnittlich schlechtere Leistungen zeigen würden als die Mitglieder des eigenen Kulturkreises. Da aber kulturelle Traditionen nicht genetisch festgeschrieben sind, können sie sich innerhalb einer Generation verändern: Die Großmutter mag dem Enkel beim Kopfrechnen oder bei der Rechtschreibung haushoch überlegen sein, während sie mangels einschlägiger Erfahrungen bestimmte („Intelligenz“-)Leistungen am Computer nicht erbringen kann.

Werden die Deutschen dumm?

Führt eine überdurchschnittliche Geburtenrate von „unterdurchschnittlich Intelligenten“ dazu, dass die kollektive Intelligenz in Deutschland absinkt?

Die aktuelle Wissenschaft geht davon aus, dass es selbst bei günstigen Kombinationen von Faktoren immer noch Hunderte von Generationen dauert, bis sich neue genetische Eigenschaften in sympatrisch (also im gleichen Areal) lebenden Populationen durchsetzen können. Zu diesen Faktoren gehört unter anderem die „Geschlossenheit“ beziehungsweise Isolation der Population. Das bedeutet aber: Selbst wenn Deutschland in einem abgeschiedenen Alpental läge, wäre mindestens bei den nächsten hundert Generationen nicht mit großen funktionalen genetischen Veränderungen zu rechnen.

Doch die hier lebende Bevölkerung ist Teil der globalisierten Weltbevölkerung. Es findet ein ständiger Genaustausch mit anderen Populationen statt, sodass sich die Genpools gegeneinander ausgleichen. Es gibt keinen einfachen Zusammenhang zwischen der Reproduktionsrate einer Bevölkerungsgruppe und Veränderungen der Frequenz von Genvarianten, insbesondere nicht im Kontext komplexer Merkmale und von kontinuierlichem Genfluss. Die These, dass sich die Durchschnitts-„Intelligenz“ von Gruppen aufgrund unterschiedlicher Reproduktionsraten kurzfristig verschieben könnte, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage.

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