Kornblumenblaue Romantik mit Gebrauchswert

NATURGUERILLA Urban Gardening ist in. Und politisch. Warum, das zeigt ein wildwüchsiger Sammelband der Soziologin Christa Müller

Stadtgärten sind ein Megatrend, sie schießen rund um den Globus ins Kraut und treiben die buntesten Blüten. In New York gibt es die Community Gardens schon seit den 1970er Jahren. In Argentinien oder Kuba steht die Selbstversorgung mit Gemüse und Obst im Mittelpunkt. In Großbritannien entstand das „Guerilla Gardening“, die Begrünung öffentlicher Freiflächen oder Baumscheiben mittels Samenbomben. In Deutschland sind es Nachbarschaftsgärten wie der „Prinzessinnengarten“ in Berlin-Kreuzberg, interkulturelle Gärten für Flüchtlinge wie in Göttingen oder Grüninitiativen in schrumpfenden Städten wie in Dessau. Ein Netzwerk von über 100 Gemeinschaftsgärten wird von der „Stiftung Interkultur“ nach Kräften gefördert. Deren Geschäftsführerin, Christa Müller, hat nun einen wildwüchsig-vielfältigen Sammelband zu Urban Gardening herausgebracht, der einen breiten Überblick über das „politische Gärtnern“ bietet.

Ja, Gärtnern ist politisch, davon sind die AutorInnen überzeugt, und deshalb geht es in dem Buch auch nicht um Tipps fürs Gänseblümchensäen, sondern um eine politische Deutung des Urban Gardening. Herausgeberin Müller weist darauf hin, dass „mit dem Versiegen des Erdöls nicht nur die industrialisierte Nahrungsmittelproduktion zur Disposition steht, sondern auch das dichotome Verständnis von Stadt und Land.“ Die neue „Rurbanität“ sei „partizipativ und gemeinschaftsorientiert“. Gemüseanbau sei „Ausgangspunkt politischen Handelns für die, die den ungehinderten und ungenierten Zugriff auf die Ressourcen der Welt infrage stellen.“

Soziologin Karin Werner beobachtet Foucault-geschult bei den jungen Gärtnern, den Enkeln der 68er, eine neue hybride „Selbstentfaltungskultur“ per Spaten, Handy und Notebook. Das Beackerte wird sogleich fotografiert, ins Netz gestellt und virtuell gespiegelt. Die Innovationsforscherin Cordula Kropp erläutert, wie sich das Gärtnern historisch gewandelt hat – von den Schrebergärten der Industriemoderne über die Kleingartenanlagen der Wirtschaftswunderzeit, die mit Fertighütten und Schneckenvernichtungstechniken heile Welten inszenierten, bis zu den städtischen Gärten der „reflexiven Moderne“, die Abgrenzungs- und Ausgrenzungslogiken überwinden wollen. Der Attac-nahe Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech zeigt sich überzeugt, dass die urbane Selbstversorgung angesichts von „Peak Oil“ und „Peak Everything“ einen wichtigen Beitrag zur Postwachstumsökonomie leisten kann. Und die Ethnologin Veronika Bennhold-Thomsen spricht von der Subsistenzwirtschaft als „Ökonomie des Gebens“. Eine andere Welt sei möglich und pflanzbar.

Das sind jetzt nur 5 der insgesamt 22 Beiträge, die der dicke Band nebst zahlreichen Fotos enthält. Theoretische Überlegungen und praktische Schilderungen von Gemeinschaftsprojekten wechseln sich ab. Manchmal blüht die blaue Blume der Romantik gar zu jäh, etwa, wenn der Philosoph Andreas Weber davon schwärmt, dass ein Garten „das Bemühen“ sei, „der Natur habhaft zu werden, indem man sich der Überwältigung durch sie hingibt“. Doch diese kleinen Kitschanfälle mindern nicht den enormen, geradezu ins Kraut schießenden Gebrauchswert des Buchs. UTE SCHEUB

Christa Müller (Hg.): „Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt“. oekom verlag 2011, 320 Seiten, 19,95 Euro