Essay über die Randale in England: Mechanismen der Eskalation

Nur sinnlose Zerstörung oder attraktive Quelle der Anerkennung? Wie lassen sich die August-Krawalle von England erklären? Und was folgt daraus? Eine Analyse.

Von einem Polizeihelikopter heraus aufgenommene Infrarot-Bilder aus Birmingham, die beweisen sollen, dass Jugendliche mit scharfer Munition auf den Hubschrauber geschossen haben. Bild: dpad

Die schweren Krawalle, die nach dem gewaltsamen Tod eines Familienvaters durch die Polizei am 7. August in London ausbrachen, haben Großbritannien erschüttert. Insgesamt starben fünf Menschen, mehr als 2800 Menschen wurden verhaftet.

Was von außen gesehen als sinnlose Gewalt erscheint, hat in der Logik der jugendlichen Akteure jedoch eine politische Botschaft: "Uns gibt es noch." Wie sind solche Unruhezyklen zu analysieren und zu erklären? Es sind immer drei zentrale Faktoren zu untersuchen: die gesellschaftlichen Hintergründe, das Agieren politischer Eliten und die Mechanismen der Eskalation.

Das Aufwachsen in der britischen Klassengesellschaft ist für zahlreiche Milieus von geringen Chancen der Integration und Anerkennung und großen Gefahren der Desintegration und Missachtung gekennzeichnet. Das zeigen die Vorläufer der jüngsten Unruhen in den achtziger und neunziger Jahren trotz ihrer unterschiedlichen ethnischen oder sozialen Konstellationen.

ist Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisation an der Universität Heidelberg. Er forscht zu den Themen Rechtsextremismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, ethnisch-kulturelle Konflikte und soziale Desintegration.

Dabei laufen die individuellen Desintegrationsprozesse überall nach gleichem Muster ab. Das notwendige Verhältnis von Freiheit und Bindung wird in drei Dimensionen zerstört: in der sozialstrukturellen durch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die zerstörerische Wirkung der Arbeitslosigkeit; in der institutionellen durch die Erfahrung und das Gefühl ungleicher und ungerechter Behandlung, etwa durch Politik, Polizei und Justiz; und in personaler Hinsicht, wenn die familiäre Ordnung zerfällt und soziokulturelle Beziehungen sich auflösen. Und immer wieder sind in diesen Bereichen entweder Anerkennungsverweigerung oder Anerkennungszerfall zu registrieren. Es stellt sich die ständige Frage nach alternativen Anerkennungsquellen: wenn schon nicht in gesellschaftlicher Hinsicht, dann wenigsten in der "Binnenkultur" der Gang.

Hinzu kommen die jeweiligen sozialräumlichen Lebensbedingungen in segregierten, also "abgehängten" Stadtteilen von Großstädten. Hier sind rechtsfreie, zumindest kontrollfreie Räume entstanden, in denen die Normen der zivilen Gesellschaft nicht mehr gelten und von der Polizei auch nicht mehr durchgesetzt werden. Es gilt dort das Recht des Stärkeren. Andere Sozialisations- und Kontrollinstitutionen wie Schulen oder Sozialarbeit und die soziale Kontrolle durch Eltern fallen auch häufig aus. Sozialisation findet über Gewalt statt.

Signalereignisse und Feindbilder

Diese Situationen erzeugen ein hohes latentes Konflikt- und Wutpotenzial, können aber nicht den Ausbruch, die Eskalation und Verbreitung der Gewalt erklären. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens verschiedener weiterer Faktoren:

Zunächst sind Signalereignisse notwendig. Diese sind nicht beliebig, um entzündungsfähig zu sein. Es muss ein Signalereignis einer bestimmten Qualität geben, damit es emotional und moralisch ausgebeutet werden kann wie die Erschießung des farbigen Familienvaters durch die Polizei in London. Ähnliche Beispiele haben wir auch schon anderswo gesehen, im Jahr 1992 in Los Angeles oder 2005 in einer Pariser Banlieue.

Ein zweiter wichtiger Faktor sind scharfe wechselseitige Feindbilder. In London verlangten die Demonstranten zunächst friedlich nach einer Untersuchung des Vorfalls, was die Polizei missachtete und so das Feindbild von der verhassten Staatsmacht bekräftigte. So kommt die Spirale der Eskalation mit ihrer überspringenden - also vom Signalereignis abgelösten - Gewalt etwa in anderen Stadtteilen und Städten in Gang.

Eine anstiftende Motivation liegt in der Opferrolle. Wer sich aber als Opfer betrachtet, gewinnt einen moralischen Vorsprung, der es ihm subjektiv erlaubt, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Wenn dann die Normen des Einzelnen oder seiner Gruppe und die der Gesellschaft auseinanderfallen, droht ein Zustand der Anomie, der Regellosigkeit und des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung. Dort, wo Jugendliche keine andere Form der sozialen Wertschätzung finden, ist Gewalt eine höchst attraktive Quelle der Anerkennung, ermöglicht durch Normlosigkeit.

Gefühlte Kollektivität

Ein zentraler Faktor besteht darin, dass der Unruhezyklus nur dann seine volle Wucht entfaltet, wenn eine kritische Masse an Jugendlichen "erzeugt" werden kann, unter anderem über moderne Kommunikationsmittel und eine hohe Verteilungsmobilität im großstädtischen Raum. Als gefühlte Kollektivität zeigen diese Gruppen vor aller Augen, dass sie sich der Polizei stellen und eine zerstörerische Gegenmacht bilden können.

Die politischen Eliten spielen eine weitere eskalierende Rolle. So, wenn Premierminister Cameron mit der vollen Härte des Gegenschlags droht, nach dem Motto: Wir kriegen euch alle. Der frühere französische Innenminister Sarkozy hatte mit der berühmten Formel vom "Kärchern" eine besonders brutale Vorlage geliefert. Kontrollverluste durch die Polizei gehören auch zu den ausbreitenden Faktoren, weil es niemanden gibt in der amorphen Masse in den Straßen, mit denen etwa über den Stopp verhandelt werden kann.

Die Vervielfältigung der Abläufe über Medien erhöhen die Erfolgserlebnisse und erzeugen neue Motivation einschließlich der Bereitschaft zu erhöhter Brutalität, denn "mehr vom Gleichen" wird von den Medien nicht mehr aufgenommen.

Schließlich sind die groben Mittel wie Wasserwerfer und Reizgas eskalierend. Es kommt zu einer Repressionsinkonsistenz (so der amerikanische Soziologe Ted Gurr). Die Staatsgewalt trifft flächendeckend Schuldige wie Unschuldige, Anführer und Mitläufer oder nur am Rande Beteiligte. Es gibt weitere Solidarisierungsschübe. Dazu gehört auch: Jede Überreaktion erzeugt neue Wut, die Unterreaktion aber wird als Ermunterung verstanden, als Erfolgsbestätigung für neue eigene Gewalt.

Gewalt in ihren eskalierenden Formen ist keine Einbahnstraße; sie ist ein zirkulärer Prozess (so in der Auffassung des Soziologen Friedhelm Neidhardt), in dem die Akteure, Jugendliche und Polizei, einander zu immer stärkerer Abweichung von deeskalierenden Aktivitäten stimulieren.

Das Verschwinden der Arbeiterklasse

Innerhalb dieser Dynamik gibt es unterschiedliche Relevanzen, die Eskalationen steigern oder ersticken. So bleibt ein emotional und moralisch ausbeutbares Ereignis wie die Tötung eines Menschen ohne Resonanz, wenn ein kollektives Feindbild wie die Polizei fehlt. Es wird dann zu einem juristischen Untersuchungsgegenstand. Oder wenn die kritische Masse aufgebrachter Jugendlicher nicht kollektiv motiviert werden kann, sind hochgerüstete Repressionskräfte schnell in der Lage, die kleinen Gewaltherde einzukreisen. Daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten des Auftretens gewaltsamer Unruhezyklen in verschiedenen europäischen Gesellschaften, wenn wichtige Elemente der Eskalationsdynamik ausfallen.

Offen ist die Frage, wie die Politik das richtige Gleichgewicht zwischen Repression und Integration finden kann angesichts der Missachtung ganzer Bevölkerungsgruppen. Die britische Politik hat sich jahrzehntelang auf die Förderung der Finanzmärkte konzentriert. Die vernachlässigte Industriepolitik hat Jugendlichen mit niedriger Qualifikation die Chancen von beruflicher und sozialer Integration genommen und zum Verschwinden einer Arbeiterklasse massiv beigetragen, die noch eigene Wert- und Normbildungsprozesse vorantreiben konnte.

Wenn diese Maßstäbe aus der Tradition des spezifischen sozialen Milieus herausgelöst werden, schafft das zwar Freiräume. Aber daraus entsteht auch die Verpflichtung für die soziale Umgebung, andere Voraussetzungen für interaktive und kommunikative Wert- und Normbildungen zu schaffen. Missachtung und Sprachlosigkeit in der Klassengesellschaft führt über Normlosigkeit in die Gewaltspirale. Nur wer sich selbst auch anerkannt fühlt, hat ein Interesse an der Stabilität gesellschaftlicher Normen und gewaltarmer sozialer Ordnung, und: Wer sich selbst nicht wahrgenommen sieht, ist ein Nichts und muss die Folgen seines Tuns für andere nicht mehr berücksichtigen. Die anderen verlieren an Bedeutung, und damit entwerten sich die sie schützenden Normen geforderter Unversehrtheit.

Neue Anerkennungsdefizite

Das Ergebnis ist eine dramatisch sinkende Hemmschwelle. Wird der Normenverlust auch von oben vorgelebt, durch die Arroganz von Eliten, mittels Lebensstil und Vorteilsnahme, so gibt es keine Gründe, dass diese Normen "unten" funktionieren, wie Cameron es jetzt mit hoher moralischer Attitüde einfordert, aber nur noch Doppelstandards medienwirksam zelebriert.

Die Aufrechterhaltung von Normen setzt aber voraus, dass Akteure nicht ausschließlich über zweckrationale Erwägungen an diese Normen gebunden sind. Der Sanktionsapparat allein, Polizei und Justiz, ist in dieser Funktion ungeeignet. Und die Gefängnisse sind bekanntlich wahre Lehranstalten zur Gewalt und effektive Desintegrationsmaschinen. Es ist ein fataler Irrtum, den Abbau sozialer Sicherungen durch den Ausbau öffentlicher Sicherheit - noch mehr Polizei, noch mehr Überwachungskameras - kompensieren zu können. Zumal man unterscheiden muss zwischen instrumenteller Gewalt, die die Gelegenheit nutzt, um Beute zu machen, und expressiver Gewalt, die sich selbst legitimiert.

Die erste Variante kann der Normalbürger in der Regel noch meiden, indem er sich von bestimmten Orten, Zeiten und Situationen fernhält; sie lässt nach, wenn die Beute gemacht ist. Die zweite Variante kann jeden treffen, weil die Opfer beliebig sind und keiner zweckrationalen Auswahl mehr unterliegen, sondern nur noch dem Gefühl der Wut ausgeliefert sind; sie kann jederzeit - bei einem entsprechenden Signalereignis - die Eskalationsspirale wieder in Gang setzen.

Jugendlichen nun Moral vorzuhalten, ihre Verwahrlosung anzuprangern, wie der britische Premier Cameron es jetzt tut, hilft nicht weiter, sondern erschwert im Gegenteil die Chancen der Kommunikation darüber, wie es nach der massiv durchgesetzten künstlichen "Beruhigung" weitergehen soll. Deren Herstellung kann schon gar nicht durch diese Vorwürfe und massenweise Aburteilungen durch Schnellgerichte erreicht werden. Sie erzeugen neue Anerkennungsdefizite wie Repressionsinkonsistenz und legen die Voraussetzungen für neue gewaltsame Unruhezyklen, zumal die sozialen Kürzungen erst noch kommen. Bis 2015 will Cameron das Haushaltsdefizit um umgerechnet 94 Milliarden Euro senken und vor allem im sozialen Bereich Ausgaben kürzen.

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