„Langfristig profitiert die Bevölkerung“

INTERVIEW Marcel Fratzscher, der neue Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, findet schnelle, wenngleich schmerzhafte Reformen sinnvoll – und nennt das Beispiel Lettland und Litauen

■ 42, beginnt in wenigen Tagen seine Tätigkeit als Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Gegenwärtig arbeitet er noch bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Dort leitet der Ökonom die Abteilung Internationale Politikanalysen.

taz: Kann Europa den Bürgern in diesen Krisenzeiten überhaupt ein tragfähiges soziales Netz spannen?

Marcel Fratzscher: Staaten wie Deutschland tun das, weil sie dazu auch in der Lage sind. Andere Länder in Europa können dies derzeit nicht leisten. In Griechenland und Spanien suchen über 26 Prozent der Erwerbspersonen eine Arbeit. Diese Staaten bieten vielen Bürgern nur noch wenig sozialen Schutz. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie haben in der Vergangenheit über ihre Verhältnisse gelebt. Trotzdem ist es eine menschliche, politische und soziale Tragödie, die sich dort abspielt.

Muss der europäische Norden dem Süden in dieser Situation nicht mit einem Sozial- oder Marshallplan helfen?

Solidarität unter den europäischen Ländern ist eine Dimension, die wichtig ist und die wir ernst nehmen sollten. Trotzdem muss man vorsichtig sein mit solchen Forderungen und die Gefahr von Fehlanreizen berücksichtigen. Wir müssen uns auf die Frage konzentrieren, wie wir nachhaltig aus der Krise kommen können. Es gibt ja bereits die Fonds der Europäischen Union für strukturschwache Regionen, von deren Zahlungen die Mittelmeerländer profitiert haben. Prinzipiell sollte man über Programme nachdenken, die es attraktiver machen, beispielsweise in Griechenland zu investieren um vor allem ein nachhaltiges Wachstum und Strukturwandel zu fördern.

Woran genau denken Sie?

Nehmen wir die Wiedervereinigung Deutschlands als Beispiel. Dabei wurden und werden noch große Summen in Infrastruktur investiert. Moderne Straßen, Bahnlinien, Strom- und Datenleitungen schaffen Voraussetzungen für Firmenansiedlungen und Arbeitsplätze. Außerdem geht es um effektive staatliche Institutionen. Wenn zum Beispiel die Finanzämter verlässlich arbeiten, profitieren davon die Unternehmen, die Bürger und die öffentliche Hand.

In Griechenland und Spanien ist etwa die Hälfte der jungen Leute erwerbslos. Ist ein sozial ausgewogener Weg nicht besser als diese Schocktherapie?

Lettland und Litauen hatten vor Jahren ähnliche Probleme wie Südeuropa. Dort senkte man daraufhin die Löhne innerhalb kurzer Zeit um bis zu 40 Prozent. Diese drastischen Einschnitte waren für viele Menschen sehr schmerzhaft. Aber die beiden Länder kamen nach zwei, drei Jahren aus der Krise heraus, die Wirtschaft begann wieder zu wachsen.

Steigen auch die Löhne in Lettland und Litauen wieder?

Ja, ein Teil der Kürzungen wurde mittlerweile kompensiert. Mittelfristig werden die Verdienste trotzdem niedriger bleiben als vor der Krise. Es stimmt: Die sozialen Kosten einer schnellen Anpassung sind hoch. Aufgrund der Nachteile lastet deshalb Druck auf den politischen Akteuren. Langfristig dürfte die Bevölkerung von einem solchen Reformprozess jedoch profitieren.

Hunderttausende Griechen und Spanier wandern aus, unter anderem nach Deutschland. Ist das eine gute Entwicklung?

Das zeigt vor allem, dass der gemeinsame Binnenmarkt Europas funktioniert. Die offenen Grenzen ermöglichen einen ökonomischen, aber auch sozialen Ausgleich. Kapital und Arbeit, Unternehmen und Menschen können dorthin gehen, wo sie die besten Chancen sehen. Für die südeuropäischen Staaten ist das einerseits von Nachteil, denn zuerst ziehen die gut ausgebildeten, motivierten Menschen weg. Andererseits bringt die Emigration auch Vorteile: Sie verringert die Arbeitslosigkeit sowie die Belastung der Sozialsysteme und der öffentlichen Haushalte.

Sind die Einwanderer eine potenzielle Konkurrenz?

Die Spanier nehmen den Deutschen nicht die Jobs weg. Im Gegenteil: Viele einheimische Unternehmen können mit gut ausgebildeten zugewanderten Fachkräften wachsen und so weitere neue Arbeitsplätze aufbauen. Zudem schaffen sich viele der jungen, dynamischen Leute, die hierherkommen, oft selbst neue Beschäftigung. Dies darf natürlich nicht zu einer Vernachlässigung der Ausbildung im eigenen Land oder zu Lohndumping führen. Auch die Sozialsysteme profitieren durch höhere Einnahmen. Im Großen und Ganzen sehe ich die Einwanderung für Deutschland positiv.

Frankreich und die USA erhöhen die Steuern für Reiche. Die Bundesregierung plädiert für höhere Löhne. Beginnt eine neue Ära sozialen Ausgleichs?

Die umstrittenen und schmerzhaften Reformen in Deutschland von vor 10 Jahren sind ein Hauptgrund dafür, dass unser Land jetzt so relativ gut dasteht. Seit 1999 ist Deutschland eines der Länder mit dem niedrigsten Anstieg der Reallöhne innerhalb der EU. Weil die deutschen Produkte konkurrenzfähig sind, haben wir heute eine so hohe Beschäftigung und eine so geringe Arbeitslosigkeit.

INTERVIEW: HANNES KOCH