Die Schwarz-Rot-Maler

Sigmar Gabriel wirbt in Regionalkonferenzen um Zustimmung zum Koalitionsvertrag. Der SPD-Chef erklärt die Befragung zur Schicksalswahl. Ein Nein richte die Partei zugrunde. Viele Genossen sehen das genau andersrum

„Jetzt, wo wir wieder bei uns sind, sollen wir in eine Große Koalition gehen, gegen unsere Überzeugungen?“, fragt Gabriel. Nein, sagen viele Leute an der Basis. Aber Gabriel will ein Ja hören

AUS BRUCHSAL LENA MÜSSIGMANN

Rohe Eier gehören nicht auf eine Parteiveranstaltung. Michaela Taghi Aghdiri hat deshalb ihren obligatorischen Samstagmorgen-Einkauf auf dem Wochenmarkt ausfallen lassen. Im dunkelroten Blazer steht sie im Foyer des Bürgerzentrums von Bruchsal, einer Kleinstadt 20 Kilometer nördlich von Karlsruhe, berühmt für ihren Spargel. Hier versammelt sich die SPD-Basis aus dem nördlichen Baden-Württemberg. Hoher Besuch hat sich den Genossen angekündigt: der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. „Da will ich nicht die Eier vom Markt hertragen“, sagt Taghi Aghdiri. „Nachher denken die noch, ich will die schmeißen.“ Sie lacht so, dass man ihre goldenen Backenzähne sehen kann.

Seit 38 Jahren ist sie in der SPD. Auf einer Parteiveranstaltung zu sein ist für sie wie heimzukommen. Im weitläufigen Foyer des Bürgerzentrums wird ihr im Vorbeigehen auf die Schulter geklopft. Taghi Aghdiri kennt so gut wie jeden Genossen aus der Region. Sie sieht die Große Koalition kritisch: „SPD ist für mich Solidarität. Verteilungsgerechtigkeit.“ In einer Großen Koalition kämen wichtige Forderungen nicht durch. „Ich befürchte, dass wir uns in vier Jahren nicht mehr kennen“, sagt Taghi Aghdiri. Die Sozialdemokraten, die sich vor der Veranstaltung unterhalten, sind mindestens ebenso skeptisch. Oder sie lehnen eine Große Koalition kategorisch ab.

Zwei Wochen vor dem Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag beginnt die Parteispitze, an der Basis um Zustimmung zu werben. Am Freitag besuchte bereits Andrea Nahles in Leinfelden bei Stuttgart die Genossen. Gabriel wurde nach dem Auftritt in Bruchsal auch noch in Ochtendung bei Koblenz erwartet.

Schon vorher enttäuscht

Marko Vidakovic, 26 Jahre, Sprecher der Jusos Karlsruhe-Land, hat Wahlkampf für die SPD und explizit gegen Merkel gemacht. Er hat für die SPD Eis am Baggersee verteilt und ist von Tür zu Tür gezogen. „Wir haben Anti-Merkel-Werbung gemacht und damit eine falsche Botschaft weitergegeben, wenn wir jetzt mit ihr koalieren.“ Für ihn fühlt es sich an wie eine Lüge.

Vidakovic ist in der SPD, weil er sich eine diskriminierungsfreie Gesellschaft wünscht. Die aus seiner Sicht ausländerfeindliche Maut-Idee der CSU passt dazu nicht. Die Gleichstellung homosexueller Paare, die er sich erhofft hat, komme mit der Union auf keinen Fall. Vidakovic ist schon vor der Veranstaltung enttäuscht.

Und dann gibt es noch Leute wie die akkurat frisierte Dame, die Vidakovic auf der Schwelle zum Veranstaltungssaal anspricht. In der Zeitung hat sie gelesen, dass die Jungsozialisten gegen den Koalitionsvertrag sind. Sie schüttelt den Kopf. „Gabriel wird ja nicht Vizekanzler, wenn er keine Zustimmung kriegt“, sagt sie. Ein Vizekanzler aus der SPD, das wäre doch was. „Na gut“, sagt sie vor sich hin, wendet sich ab und sucht nach „Bruchsaler Leut’ “, bei denen noch ein guter Platz frei ist.

Rund 370 SPD-Mitglieder sitzen im holzvertäfelten Ehrenbergsaal, der mit dem dunkelblau-samtenen Vorhang hinter dem Podium eine Heimeligkeit ausstrahlt, die zu einem Krippenspiel passen würde. Gabriel kommt auf die Bühne, die er erst nach knapp drei Stunden wieder verlassen wird, obwohl er nur zwei bleiben wollte. Aber was ist schon eine Stunde, wenn es um vier Jahre an der Regierung, nein, sogar um den Fortbestand der Sozialdemokratie geht?

Gabriel rollt die Vorgeschichte auf: Die SPD sei so sehr bei sich wie lange nicht mehr. Das Wahlprogramm habe zum ersten Mal seit der oft vermaledeiten Agenda 2010 die Überzeugung vieler Genossen widergespiegelt. „Und jetzt, wo wir wieder bei uns sind, sollen wir in eine Große Koalition gehen, gegen unsere Überzeugungen?“, fragt Gabriel.

Nein, sagen viele Leute an der Basis. Aber Gabriel will ein Ja hören.

Gabriel appelliert aber an die Vernunft, an Verantwortung. Wenn sich bei Koalitionsverhandlungen Verbesserungen für Millionen Menschen abzeichneten, dürfe sich die SPD dem nicht verweigern. Voraussichtliche Erfolge der SPD seien zum Beispiel die Durchsetzung der Mietpreisbremse, die doppelte Staatsbürgerschaft, die Solidarrente.

Gabriel ist ein einnehmender Redner. Mit Selbstironie bringt er die Zuhörer ab und zu zum Lachen – doch der Parteivorsitzende maßregelt sie sogleich. Für die SPD gebe es im Moment überhaupt nichts zu lachen. „Es geht um das Schicksal der Sozialdemokratie in den nächsten Jahren“, sagt er. Ein Satz, schwer wie Blei. Gabriel will es so. Er will, dass jedes Mitglied die Schwere der Verantwortung spürt. Die Folgenschwere.

Er macht im engeren Sinne gar keine Werbung für den Koalitionsvertrag. In der Wenn-dann-Rhetorik von Reklame folgt auf das Dann für gewöhnlich eine verlockende Versprechung. Gabriel sieht eher die sozialdemokratische Apokalypse vor sich, für die er die Ablehner der Koalition verantwortlich machen würde. „Wenn die SPD Nein zur Großen Koalition sagt, dann verabschiedet sie sich von ihrem Volksparteicharakter.“

Einem jungen Zwischenrufer sagt er: „Du wirst die SPD mit Ablehnung politisch und finanziell zugrunde richten.“ Eine Neuwahl und der damit verbundene Wahlkampf koste zu viel. Und: „Wenn ein Vorsitzender in einer so wichtigen Frage aufläuft, muss jedem klar sein, was passiert.“ Ein bisschen zu melodramatisch für den selbst inszenierten Vernunftspolitiker.

Der Ton wird gereizt

Gabriel stellt offenbar sein Amt zur Disposition. Er wirft alles in die Waagschale. Das wirkt eher verzweifelt als taktisch klug. Die Veranstaltung wird angespannter, der Ton gereizter. Bei manchen Fragen der Mitglieder wird Gabriel ungehalten. Warum es kein Linksbündnis gibt? „Das ist keine sozialdemokratische Partei“, poltert er. Auch eine Minderheitenregierung von Merkel sei völlig unrealistisch, eher gebe es Wiederwahlen. „Und wer glaubt, die SPD schneide dann besser ab, ist ein großer Optimist.“

In den Warteschlangen an den Fragemikrofonen stehen manche, die Gabriel mit seinen Appellen erreicht hat. Ein graumelierter Genosse sagt: „Ich hatte die innere Tendenz abzulehnen. Nach deiner ehrlichen Rede bin ich nicht mehr ganz so sicher.“

Ein älterer Herr hat seine Kamera mitgebracht und fotografiert aus einer der hinteren Reihen mit Teleobjektiv den Politpromi. Doch die Anwesenheit von Parteichef Gabriel allein vermag nicht alle Besucher so zu begeistern.

Die Jusos sitzen geschlossen in den letzten Reihen. Gabriel hat es nicht geschafft, sie aus ihrer Fundamentalopposition zu holen. Schlimmer: Er hat es nicht einmal versucht. Marko Vidakovic bekräftigt am Mikrofon sein Nein zum Koalitionsvertrag.

Gabriel antwortet: „Du hast eine Haltung und suchst Gründe, um sie zu bestätigen. Ich hätte es als Falke genauso gemacht.“ Aber wie wolle er der Frisörin aus dem Erzgebirge erklären, dass sie wegen seiner Ablehnung vier weitere Jahre keinen Mindestlohn bekommt? „Wir würden unserer 150-jährigen Tradition keine Ehre machen, wenn wir Verbesserungen nicht durchführen, nur weil wir uns damit nicht wohlfühlen. Hier geht es um eine Güterabwägung – das ist Politik. Und ein altmodisches Wort dafür ist Verantwortung.“

„Für dumm verkauft“

Für Marko Vidakovic geht es auch um Verantwortung. Er will die SPD vor einem Fehler, vor der Verwässerung ihrer Politik bewahren und muss sich Egoismus vorwerfen lassen. Er fühlt sich nach der Veranstaltung vorgeführt. „Ich kam mir für dumm verkauft vor, das hat er auch beabsichtigt“, sagt er. „Ich muss überlegen, ob ich austrete, wenn eine Mehrheit für den Koalitionsvertrag stimmt. Dann gehöre ich nicht mehr in diesen Verein.“ In dieser fatalistischen Argumentation unterscheidet er sich gar nicht so sehr von Gabriel.

Es geht an diesem Tag bei dieser Entscheidung auch wesentlich um Gefühle, ob Gabriel es will oder nicht. Einfühlungsvermögen für die Gedankenwelt seiner Gegner in der Partei fehlt ihm aber. Das gute Bauchgefühl, das er für die aus seiner Sicht egoistische und verantwortungslose Entscheidung gegen den Koalitionsvertrag verantwortlich macht, ist für Sozialdemokraten wie Vidakovic der einzige Lohn für ihre Arbeit. Und wovon lebt eine Partei, wenn nicht vom Idealismus ihrer Mitglieder?

Michaela Taghi Aghdiri spricht nach der Veranstaltung mit den vergrätzten Jungsozialisten. „Ich bin begeistert, dass ihr junge Leut’ für eure Ideale einsteht. Ihr habt Feuer für Politik“, sagt sie. Sie hat ein großes Bedürfnis nach Diskussion gespürt. Im Stadtverband werde man vor der Abstimmung noch einmal darüber debattieren. Taghi Aghdiri ist zwar weiterhin skeptisch. Aber sie nimmt sich vor, sachlich zu entscheiden. „Wir müssen sehen, was bringt der Koalitionsvertrag, was bringt er nicht“, sagt sie.

Dann verlässt sie das Bürgerzentrum. Die Übertragungswagen sind schon weg, die Schirme am Wochenmarkt werden zusammengeklappt. Eigentlich wollte sie ihren Einkauf nachholen. Aber was sind schon zehn Eier, wenn es um die Zukunft der Sozialdemokraten geht.