Im Schwebezustand des Magischen

BELLETRISTIK Es war eine Überraschung, dass der Lyriker Jan Wagner nominiert wurde. Dass er nun mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“ gewonnen hat, ist ein schönes Signal

Jan Wagner ist ein Reisender in der Tradition der Romantiker, ein Wanderer

Die Dichter sind die Schamanen unter den Schriftstellern. Im Gedicht werden die Resonanzen der Worte ausgelotet, ihre Bedeutungen vermessen. Die Lyrik ist eine Orchidee, die umso fremder duftet, je schneller und mehr geschrieben, gedruckt und auf den Markt geworfen wird.

So war es schon eine Überraschung, dass Jan Wagner mit einem Lyrikband in die Liste der für den Preis der Leipziger Buchmesse Nominierten aufgenommen wurde. Dass er nun, als einer von fünf in der Kategorie Belletristik, den Preis erhalten hat, ist ein schönes Signal. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung für einen Autor, der sich achtsam und mit Genuss unserer Sprache bemächtigt.

Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, hat acht Gedichtbände veröffentlicht. Die frühen sind beim Berlin Verlag erschienen, die späteren bei Hanser Berlin. Für sein Werk wurde er bereits 27-mal ausgezeichnet. Die Jury des Leipziger Buchpreises hat also nicht einen Außenseiter erwählt, um auch mal der Lyrik Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jan Wagner wird geschätzt für seine „Lyrik voller Geistesgegenwart“, in der die Lust am Spiel mit der Sprache vor den strengen Formen nicht haltmache, wie es die Jury formulierte.

Das erste Gedicht der „Regentonnenvariationen“ widmet sich dem Giersch. Wird wohl eine Pflanze sein, mit „blüten, die so schwebend weiß sind, keusch wie ein tyrannentraum“.

Lyrik in Zeiten von Google bedeutet, dass kaum ein Wort, kaum ein Name lange in jenem Schwebezustand des Magischen verbleibt, der sich einstellt, wenn sich der Unwissende einem reinen Signifikanten aus Zeichen und Klang gegenübersieht. Der Giersch, sagt Wikipedia, ist eine Pflanzenart aus der Gattung Ziegenfüßler. „schickt seine kassiber / durchs dunkel unterm rasen, unterm feld“, schreibt Jan Wagner über die untergründige Aktivität des Zipperleinskrauts, aus dem man auch Salat machen kann.

Die „Regentonnenvariationen“ erzählen vom Giersch, von Maulbeeren und Silberdisteln. Von Pferden, Eseln und Koalas, von Jaffa, Krynica Morska und Zanigrad, vom toten Großvater, von jungen Trinkern und von Kindern im Baum. Spannend wird es, wenn Pflanzen, Tiere, Menschen auf unerwartete Weise zusammentreffen wie das Weidenkätzchen in der Nase von Tante Mia, als sie noch ein Mädchen war. Auch über die Regentonne selbst wird gesprochen: „eine art ofen / im negativ; qualmte nicht, / schluckte die wolken.“

Jan Wagner ist ein Reisender in der Tradition der Romantiker, ein Wanderer, der die „kleinen“ Dinge vor sich sieht: „da war ein jetzt, und da war ein hier.“ Wagner betrachtet die Welt im Bewusstsein desjenigen, der nicht nur weiß, sondern sich darüber freut, dass diese Welt auch ohne ihn da ist und da sein wird.

Die Rhythmen seiner Gedichte sind vielfältig. Mal klassisch getaktet wie griechische Verse, mal improvisierend, aber nie ohne Form. Ruhig und stetig fließen die Sätze. Nachts und im Garten klingen sie am besten.

ULRICH GUTMAIR